»Kennen Sie meine Tochter noch nicht?« sagte die Gouverneurin. »Sie kommt soeben aus dem Institut.«
Er antwortete, daß er bereits das Vergnügen gehabt hätte, sie zufälligerweise kennenzulernen; er versuchte noch etwas hinzuzufügen, aber das Etwas mißlang ihm völlig. Die Gouverneurin sagte noch einige Worte und begab sich mit ihrer Tochter ans andere Ende des Saales zu den anderen Gästen; Tschitschikow stand aber noch immer unbeweglich auf dem gleichen Fleck wie ein Mensch, der in froher Laune auf die Straße getreten ist, um einen kleinen Spaziergang zu machen, mit Augen, die bereit sind, alles aufzunehmen, und der plötzlich stehengeblieben ist, weil er sich erinnert hat, daß er etwas vergessen hat; es gibt keinen dümmeren Anblick als den, den der Mensch in diesem Zustande bietet: der sorgenlose Ausdruck hat sich sofort von seinem Gesichte verflüchtigt; er bemüht sich, darauf zu kommen, was er eigentlich vergessen hat: das Taschentuch? doch das Taschentuch ist in der Tasche; das Geld? auch das Geld ist in der Tasche; er scheint alles bei sich zu haben, und doch raunt ihm ein unbekannter Geist zu, daß er etwas vergessen habe. Er blickt ratlos und geistesabwesend auf die an ihm vorüberwogende Menge, auf die vorübersausenden Equipagen, auf die Helme und Gewehre eines vorbeimarschierenden Regiments, auf ein Aushängeschild, und sieht eigentlich nichts. So stand auch Tschitschikow auf einmal allem, was um ihn her geschah, fremd gegenüber. Indessen richteten an ihn duftende Damenlippen eine Menge von Anspielungen und Fragen, die von Feinheit und Liebenswürdigkeit durch und durch erfüllt waren: »Ist es uns armen Erdbewohnerinnen gestattet, uns zu erkühnen, Sie zu fragen, woran Sie denken?« – »Wo liegen die seligen Gegenden, wo Ihre Gedanken flattern?« – »Darf man den Namen derjenigen erfahren, die Sie in dieses süße Tal der Versunkenheit versetzt hat?« Er aber schenkte allen diesen Fragen nicht die geringste Beachtung, und die angenehmen Phrasen verflogen wie Rauch. Er war sogar so unliebenswürdig, daß er alle die Damen verließ und sich in eine andere Gegend des Saales begab, um festzustellen, wohin die Gouverneurin mit ihrer Tochter gegangen war. Die Damen wollten ihn aber wohl nicht so leicht loslassen: eine jede faßte innerlich den Entschluß, alle Mittel anzuwenden, die unseren Herzen so gefährlich sind, und alles Schönste, was sie nur hatte, als Waffe zu gebrauchen. Es ist zu erwähnen, daß einige Damen – ich sage: einige, also durchaus nicht alle – eine kleine Schwäche haben: wenn sie an sich etwas Schönes wissen, sei es die Stirne, der Mund oder die Hände, so sind sie überzeugt, daß dieser schönere Teil allen sofort in die Augen fallen muß und daß alle wie aus einem Munde sagen werden: »Schaut nur, schaut nur, was sie für eine schöne griechische Nase hat!« oder »Welch eine herrliche, regelmäßige Stirn!« Eine, die schöne Schultern hat, ist im voraus überzeugt, daß alle jungen Leute hingerissen sind und sooft sie an ihnen vorbeigeht, wiederholen werden: »Ach, was sie für herrliche Schultern hat!« Ihr Gesicht, die Haare, die Nase, die Stirne werden sie aber gar nicht anschauen, und wenn sie sie auch anschauen, so doch nur als etwas ganz Nebensächliches. So denken manche Damen. Jede Dame gab sich innerlich das Gelübde, beim Tanze möglichst bezaubernd zu erscheinen und im größten Glanze alle die Vorzüge zu zeigen, die sie überhaupt hatte. Die Postmeisterin neigte beim Walzer ihren Kopf so schmachtend auf die Seite, daß der Eindruck wirklich überirdisch war. Eine sehr liebenswürdige Dame, welche, als sie vom Hause aufbrach, gar nicht die Absicht hatte, zu tanzen, infolge einer, wie sie sich selbst ausdrückte, kleinen Inkommodität am rechten Fuße in Gestalt eines kleinen Hühnerauges, was sie sogar veranlaßte, Hausschuhe aus Plüsch anzuziehen – hielt es dennoch nicht aus und tanzte einige Runden in den Hausschuhen, nur damit sich die Postmeisterin nicht allzuviel einbilde.
Das alles verfehlte aber bei Tschitschikow die beabsichtigte Wirkung. Er sah sogar die tanzenden Damen gar nicht an, sondern reckte sich nur immer auf den Zehenspitzen, um über die Köpfe hinweg auszuspähen, wohin die interessante Blondine wohl verschwunden sein möge; er hockte sich auch hin und blickte zwischen den Schultern und Rücken hindurch, bis er sie endlich fand: sie saß neben ihrer Mutter, die einen majestätischen orientalischen Turban mit schwankender Feder trug. Es hatte den Anschein, als wollte er sie im Sturm nehmen. War das die Wirkung des Frühlings, oder stieß ihn jemand von hinten – jedenfalls drängte er sich, koste es, was es wolle, vor: der Branntweinpächter bekam von ihm einen so starken Stoß, daß er wankte und sich nur mit Mühe auf einem Beine festhielt, sonst hätte er wohl die ganze Reihe umgeschmissen; der Postmeister taumelte zurück und blickte ihn mit Verwunderung an, zu der sich auch eine feine Ironie gesellte; Tschitschikow sah sie aber gar nicht an: er sah nur in der Ferne die Blondine, die gerade einen langen Handschuh anzog und zweifellos vor Verlangen brannte, über das Parkett zu fliegen. Etwas abseits tanzten aber schon vier Paare eine Mazurka: die Absätze durchlöcherten fast den Boden, und ein Stabshauptmann von der Linie arbeitete mit Leib und Seele, mit Armen und Beinen und vollführte solche Pas, wie sie wohl noch kein Mensch selbst im Traume vollführt hat. Tschitschikow huschte an der Mazurka vorbei, glitt beinahe über die Absätze hinweg und flog geradezu an den Platz, wo die Gouverneurin mit ihrer Tochter saß. Er trat jedoch sehr scheu an sie heran, bewegte nicht mehr so flink und elegant die Füße, schien sogar etwas ratlos, und alle seine Bewegungen zeugten von einer gewissen Verlegenheit.
Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob in unserem Helden wirklich die Liebe erwacht war; es ist sogar sehr zweifelhaft, ob die Herren von seinem Schlag, also solche, die nicht gerade dick, aber auch nicht gerade dünn sind, überhaupt der Liebe fähig sind. Und doch steckte in alledem etwas Seltsames, etwas von dieser Art, was er sich selbst nicht erklären konnte: es kam ihm so vor, wie er es nachträglich selbst eingestand, als wäre der ganze Ball mit seinem ganzen Gerede und Lärm für einige Minuten in die Ferne zurückgetreten; die Geigen und die Trompeten tönten irgendwo hinter den Bergen, und alles war in einen Nebel gehüllt, der an eine nachlässig hingeschmierte Partie eines Bildes erinnerte. Und aus diesem nachlässig auf die Leinwand hingeworfenen Nebel traten nur die feinen Züge der bezaubernden Blondine klar und deutlich hervor: ihr rundliches Gesichtsoval, ihre feine schmale Taille, wie sie nur ein junges Mädchen in den ersten Monaten nach dem Austritt aus dem Institut hat, ihr weißes, beinahe einfaches Kleidchen, das leicht und fließend ihre jungen schlanken Glieder umspannte, welche wunderbar reine Linien zeigten. Sie schien ganz einem mit fester Hand aus Elfenbein geschnitzten Spielzeuge zu gleichen; sie allein leuchtete weiß, durchsichtig und hell aus der trüben und undurchsichtigen Masse hervor.
Offenbar ist es auf dieser Welt immer so; offenbar werden auch die Tschitschikows für einige Minuten in ihrem Leben zu Dichtern; aber das Wort »Dichter« wäre doch schon etwas zuviel. Jedenfalls fühlte er sich wie ein junger Mann, beinahe wie ein Husar. Als er neben dem jungen Mädchen und ihrer Mutter einen freien Stuhl bemerkte, nahm er ihn sofort ein. Das Gespräch wollte anfangs nicht recht in Fluß kommen, aber nach einiger Zeit ging die Sache besser; er fühlte sogar einigen Mut, aber ... Hier müssen wir zu unserem größten Leidwesen bemerken, daß die soliden Männer und solche, die wichtige Ämter bekleiden, in Gesprächen mit Damen meist etwas schwerfällig sind; Meister in dieser Beziehung sind die Herren Leutnants, doch nur, solange sie nicht zu Hauptleuten befördert worden sind. Wie sie das anstellen, das weiß Gott allein; es ist doch wahrhaftig nichts Besonderes, was sie erzählen, und doch schüttelt sich so ein junges Mädchen auf ihrem Stuhle vor Lachen; ein Staatsrat dagegen erzählt Gott weiß was; entweder bringt er die Rede darauf, daß Rußland ein weit ausgedehntes Reich sei oder läßt ein Kompliment los, das zwar nicht ohne Geist erdacht ist, aber entsetzlich nach einem Buche riecht; und wenn er etwas Komisches sagt, so lacht er darüber unvergleichlich mehr als diejenige, die ihm zuhört. Diese Bemerkung machte ich hier, damit die Leser begreifen, warum die Blondine während der Erzählungen unseres Helden zu gähnen anfing. Unser Held merkte dies aber gar nicht, als er eine Menge von unangenehmen Dingen vorbrachte, die er schon bei ähnlichen Anlässen an verschiedenen Orten vorzubringen die Gelegenheit gehabt hatte: im Ssimbirsker Gouvernement bei Ssofron Iwanowitsch Bespetschnyj, bei dem sich damals seine Tochter Adelaida Ssofronowna mit ihren drei Schwägerinnen: Maria Gawrilowna, Alexandra Gawrilowna und Adelheide Gawrilowna aufhielt; bei Fjodor Fjodorowitsch Perekrojew im Rjasaner Gouvernement; bei Frol Wassiljewitsch Pobjedonosnyj im Pensaschen Gouvernement und bei dessen Bruder Pjotr Wassiljewitsch im Beisein von dessen Schwägerin Katerina Michailowna und deren Cousinen zweiten Grades: Rosa Fjodorowna und Emilia Fjodorowna; im Wjatsker Gouvernement bei Pjotr Warssonofjewitsch im Beisein der Schwester seiner Schwiegertochter Pelageja Jegorowna, deren Nichte Ssofja Rostislawowna und deren beiden Stiefschwestern Ssofja Alexandrowna und Maklatura Alexandrawna.