Es darf dem Leser nicht wunderlich erscheinen, daß beide Damen verschiedener Ansicht darüber waren, was sie zur gleichen Zeit gesehen hatten. Es gibt in der Welt tatsächlich viele solche Dinge, die diese Eigenschaft haben: der einen Dame erscheinen sie vollkommen weiß, einer anderen dagegen so rot wie Preißelbeeren.
»Hier haben Sie noch einen Beweis dafür, daß sie blaß ist«, fuhr die angenehme Dame fort. »Ich erinnere mich, als ob es heute geschehen wäre, wie ich neben Manilow saß und zu ihm sagte: ›Schauen Sie nur, wie blaß sie ist!‹ Nein, wirklich, man muß schon so dumm sein, wie es unsere Männer sind, um sie bezaubernd zu finden. Und unser Herzensbrecher ... Wie ekelhaft kam er mir vor! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ekelhaft er mir vorkam, Anna Grigorjewna!«
»Ja, und doch fanden sich gewisse Damen, die sich für ihn begeisterten.«
»Meinen Sie etwa mich, Anna Grigorjewna? Das dürfen Sie niemals sagen, niemals, niemals!«
»Ich spreche doch gar nicht von Ihnen! Als ob es außer Ihnen keine anderen Damen gäbe ...«
»Niemals, niemals, Anna Grigorjewna! Erlauben Sie mir die Bemerkung, daß ich mich sehr gut kenne; vielleicht meinen Sie gewisse andere Damen, die die Rolle von Unnahbaren spielen.«
»Sie müssen schon entschuldigen, Ssofja Iwanowna! Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich mir noch nie etwas so Skandalöses zuschulden kommen ließ. Vielleicht trifft das auf jemand anderen zu, doch nie auf mich!«
»Warum fühlen Sie sich getroffen? Es waren ja auch noch andere Damen da, die sich des Stuhles an der Türe bemächtigen wollten, um möglichst nahe bei ihm zu sitzen.«
Nach diesen Worten der angenehmen Dame hätte eigentlich unbedingt ein Sturm losbrechen müssen; doch zu unserem größten Erstaunen wurden die beiden Damen plötzlich still, und es erfolgte nichts. Die in allen Beziehungen angenehme Dame erinnerte sich, daß das Schnittmuster zu dem modernen Kleide sich noch nicht in ihren Händen befand, und der einfach angenehmen Dame fiel es ein, daß sie noch gar keine Einzelheiten über die von ihrer intimen Freundin gemachte Entdeckung erfahren hatte; darum wurde der Frieden sehr schnell geschlossen. Man kann übrigens nicht sagen, daß die beiden Damen in ihrer Natur das Bedürfnis hätten, einander Unannehmlichkeiten zu bereiten; in ihren Charakteren war überhaupt nichts Boshaftes; allerdings wenn sie miteinander sprachen, regte sich in ihnen zuweilen, ohne daß sie es merkten, ganz von selbst der Wunsch, einander einen kleinen Stich zu versetzen; es bereitete ihnen einfach eine kleine Freude, einander bei Gelegenheit ein giftiges Wort zu sagen: »Da hast du es! Nimm und friß es!« Die Herzen des männlichen wie des weiblichen Geschlechts haben nämlich zuweilen verschiedene Bedürfnisse.
»Ich kann nur das eine nicht verstehen«, sagte die einfach angenehme Dame: »Wie konnte sich Tschitschikow, der hier doch nur auf der Durchreise ist, zu so einem kühnen Streich entschließen. Es kann nicht sein, daß er keine Helfershelfer hätte.«
»Glauben Sie vielleicht, daß er keine hat?«
»Wer, glauben Sie, könnte es sein?«
»Nun, zum Beispiel Nosdrjow.«
»Was, Nosdrjow?«
»Warum denn nicht? Das sähe ihm doch ähnlich. Sie wissen ja: er wollte seinen leiblichen Vater verkaufen oder genauer gesagt, auf eine Karte setzen und verlieren.«
»Ach, mein Gott, was für interessante Neuigkeiten ich von Ihnen höre! Ich hätte mir niemals gedacht, daß auch Nosdrjow in diese Geschichte verwickelt sei!«
»Ich habe es mir aber immer gedacht.«
»Wenn man bloß bedenkt, was in der Welt alles geschieht! Wer hätte es damals ahnen können, als Tschitschikow, Sie erinnern sich doch noch, in unsere Stadt kam, daß er einen so seltsamen Marsch durch die Welt antreten würde? Ach, Anna Grigorjewna, wenn Sie wüßten, wie ich mich aufregte! Wenn nicht Ihre Zuneigung und Ihre Freundschaft ... ich wäre wirklich am Rande eines Abgrundes ... was hätte ich anfangen sollen? Meine Maschka sieht, daß ich bleich bin wie der Tod. ›Liebe Gnädige‹, sagt sie zu mir. ›Sie sind bleich wie der Tod.‹ – ›Maschka,‹ sage ich ihr, ›was kümmert mich das jetzt!‹ So ein Fall! Also ist auch Nosdrjow in die Sache verwickelt! Eine schöne Geschichte!« Die angenehme Dame wollte gern die weiteren Einzelheiten über die Entführung erfragen, d. h. zu welcher Stunde diese stattfinden sollte und so weiter, aber ihr Wunsch war unbescheiden. Die in allen Beziehungen angenehme Dame sagte einfach, sie wisse nichts Näheres. Sie konnte nicht lügen: etwas kombinieren – das ist eine andere Sache, und auch das konnte sie nur, wenn die Kombination sich auf eine tiefe innere Überzeugung gründete; wenn sie diese innere Überzeugung wirklich hatte, so verstand sie auch, für sie einzutreten; da hätte nur der geschickteste Advokat, berühmt durch seine Kunst, fremde Ansichten zu widerlegen, versuchen sollen, ihr zu opponieren: er würde sehen, was tiefe innere Überzeugung heißt!
Daß die beiden Damen schließlich fest von der Sache überzeugt waren, die vorher nur eine Kombination gewesen war, ist durchaus nicht merkwürdig. Auch wir Männer, die wir uns für klug halten, verfahren fast genau so, und als Beweis dafür können unsere gelehrten Untersuchungen gelten. So ein Gelehrter packt die Sache wie ein richtiger Gauner an und beginnt schüchtern, gemäßigt mit der bescheidensten Frage: »Kommt es vielleicht daher? Verdankt nicht dieses Land seinen Namen jener Gegend?« oder: »Gehört nicht diese Urkunde in eine andere, spätere Zeit?» oder: »Soll man nicht unter dieser Bezeichnung das und das Volk verstehen?« Er zitiert sofort eine Reihe von Schriftstellern des Altertums, und sobald er nur irgendeine Andeutung oder etwas, was ihm als eine Andeutung erscheint, sieht, wird er gleich kühn, beginnt mit diesen Schriftstellern des Altertums wie mit seinesgleichen zu sprechen, richtet an sie Fragen, die er selbst für sie beantwortet, und vergißt ganz, daß er mit einer schüchternen Hypothese angefangen hat; es kommt ihm schon vor, als ob er es alles deutlich sehe, als ob alles sonnenklar sei, und er schließt seine Untersuchung mit den Worten: »So verhielt es sich also: dieses Volk ist also hier gemeint! Von diesem Standpunkte aus muß also die Sache angesehen werden!« Dann verkündet er es öffentlich vom Katheder herab, und die neuentdeckte Wahrheit tritt ihren Marsch durch die Welt an und gewinnt neue Anhänger und Verfechter.
Während die beiden Damen dieses so komplizierte Problem so glücklich und geistreich gelöst hatten, trat in den Salon der Staatsanwalt mit seinem ewig unbeweglichen Gesicht, den buschigen Augenbrauen und dem immer blinzelnden Auge. Die Damen berichteten ihm um die Wette von allen Ereignissen, erzählten vom Kaufe der toten Seelen, von der Absicht, die Gouverneurstochter zu entführen und machten ihn so konfus, daß er, solange er auch auf dem gleichen Fleck stand, mit dem linken Auge blinzelte und sich mit dem Taschentuch auf den Bart schlug, um ihn vom Tabak zu reinigen, absolut nichts begreifen konnte. Die beiden Damen verließen ihn in diesem Zustande, und eine jede eilte in eine andere Richtung, um die Stadt in Aufruhr zu versetzen. Es gelang ihnen, dieses Unternehmen in kaum mehr als einer halben Stunde zu vollenden. Die Stadt war in Aufruhr; alles befand sich in Gärung, und kein Mensch konnte etwas verstehen. Die Damen brachten es fertig, alle Köpfe dermaßen zu verwirren, daß alle, besonders aber die Beamten, eine Zeitlang ganz betäubt waren. Ihre Lage glich in den ersten Augenblicken der eines Schuljungen, dem seine Kameraden, die früher als er aufgestanden, als er noch schlief, einen »Husaren«, d. h. eine Papiertüte mit Tabak in die Nase gesteckt haben. Nachdem er den ganzen Tabak mit der ganzen Kraft eines Schlafenden in die Nase eingezogen hat, erwacht er, springt auf, glotzt wie ein Narr nach allen Seiten und kann nicht begreifen, wo er ist und was mit ihm geschieht; dann erst erkennt er die von den schrägen Sonnenstrahlen beleuchteten Wände, hört das Lachen der Kameraden, die sich in allen Ecken versteckt haben, und sieht den zum Fenster hereinblickenden Morgen mit dem erwachten Wald, in dem Tausende von Vogelstimmen zwitschern, den in Licht getauchten Bach, der hier und da in glänzenden Windungen im dünnen Schilfe verschwindet und voller nackter Kinder ist, die zum Baden rufen; – dann erst merkt er, daß ihm in der Nase der »Husar« sitzt. Genau so war im ersten Augenblick die Verfassung der Bürger und der Beamten der Stadt. Ein jeder blieb wie ein Hammel mit glotzenden Augen stehen. Die toten Seelen, die Gouverneurstochter und Tschitschikow vermischten sich in den Köpfen zu einem tollen Durcheinander; erst als die erste Betäubung vorbei war, fingen sie an, diese Dinge voneinander zu unterscheiden und gesondert zu sehen; sie fingen an, Rechenschaft zu fordern und sich zu ärgern, als sie sahen, daß die Sache sich durchaus nicht aufklären wollte. »Was ist das für eine Geschichte, in der Tat, was ist das für eine Geschichte mit den toten Seelen? In den toten Seelen steckt doch gar keine Logik! Wie kann man tote Seelen kaufen? Was für ein Narr wird tote Seelen kaufen wollen? Wo wird er das Geld dazu hernehmen? Was kann man bloß mit den toten Seelen anfangen? Und was hat das Ganze mit der Gouverneurstochter zu tun? Wenn er sie entführen wollte, was brauchte er dann die toten Seelen zu kaufen? Und wenn einer schon die toten Seelen kauft, was braucht er die Gouverneurstochter zu entführen? Wollte er ihr etwa die toten Seelen schenken? Was für einen Unsinn verbreitet man in der Stadt? Was ist das für eine Geistesrichtung: ehe man sich’s versieht, lassen die Leute ein Gerücht los, das nicht den geringsten Sinn hat ... Immerhin wird das Gerücht verbreitet, folglich muß auch etwas dahinter stecken ... Aber was kann hinter den toten Seelen stecken? Nicht der geringste Anhaltspunkt läßt sich da entdecken. Es ist einfach ein Unsinn, albernes Zeug, Gefasel! Da kennt sich der Teufel aus! ...« Mit einem Worte, man redete und redete, und die ganze Stadt sprach nur von den toten Seelen, von der Gouverneurstochter und von Tschitschikow, und alles kam in Aufruhr. Die Stadt, die bis dahin in Schlaf versunken schien, erhob sich, wie von einem Wirbelsturm erfaßt. Alle Siebenschläfer und Faulpelze, die in ihren Schlafröcken seit Jahren zu Hause hockten und die Schuld bald auf den Schuster, der ihnen die Stiefel zu eng gemacht hatte, bald auf den Schneider und bald auf den versoffenen Kutscher schoben, kamen aus ihren Löchern gekrochen; alle, die schon längst jeden Verkehr mit ihren Bekannten abgebrochen hatten und nur noch mit den Gutsbesitzern Lieginskij und Schlafinskij verkehrten (berühmte termini technici, die von den Verben »liegen« und »schlafen« stammen und in Rußland ebenso verbreitet sind wie der Ausdruck: »bei Schnarchikow und Schnaubizkij einkehren«, worunter das Schlafen auf der Seite, auf dem Rücken und jeder anderen Lage mit Schnarchen, Pfeifen durch die Nase und sonstigen Begleiterscheinungen verstanden wird); alle, die man nicht einmal durch eine Einladung zu einer Fischsuppe im Werte von fünfhundert Rubel mit zwei Ellen langen Sterlets und allerlei im Munde schmelzenden Pasteten aus dem Hause locken konnte – mit einem Worte, es zeigte sich, daß die Stadt groß und stark bevölkert war. Es tauchten sogar ein gewisser Ssyssoj Pafnutjewitsch und ein gewisser Macdonald Karlowitsch auf, von denen man vorher noch nie etwas gehört hatte; in den Salons zeigte sich plötzlich ein unheimlich langer Kerl mit durchschossenem Arm, von einer Körpergröße, wie man sie noch nie gesehen hatte. Auf den Straßen erblickte man gedeckte Droschken, unbekannte Kutschen, allerlei Fuhrwerke mit rasselnden und quietschenden Rädern – und die Geschichte ging los. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätte man diesen Gerüchten vielleicht gar keine Beachtung geschenkt; die Stadt N. hatte aber schon seit langer Zeit keinerlei Neuigkeiten gehört. Im Laufe der letzten drei Monate hatte sich sogar nichts ereignet, was man in den Hauptstädten commérage nennt und was für eine Gouvernementsstadt bekanntlich dasselbe bedeutet, wie die Zufuhr von Lebensmitteln. Im städtischen Geschwätz zeigten sich plötzlich zwei durchaus entgegengesetzte Meinungen und bildeten sich zwei gänzlich entgegengesetzte Parteien: die männliche und die weibliche. Die Männerpartei war die stupidere und wandte ihre Aufmerksamkeit ausschließlich den toten Seelen zu. Die Weiberpartei widmete sich ausschließlich der Entführung der Gouverneurstochter. Zur Ehre der Damen muß hier festgestellt werden, daß in dieser Partei viel mehr Ordnung und Umsicht herrschte. Das brachte wohl die Bestimmung der Frauen, gute Wirtinnen zu sein und auf Ordnung im Hause zu sehen, mit sich. Alles nahm bei ihnen eine lebendige, bestimmte Gestalt an, kleidete sich in klare, handgreifliche Formen, klärte und läuterte sich und ergab zuletzt ein vollkommenes Bild. Es stellte sich heraus, daß Tschitschikow schon längst verliebt war, daß er mit der Betreffenden im Garten bei Mondenschein mehrere Rendezvous gehabt hatte, daß der Gouverneur ihm seine Tochter sogar gerne gegeben hätte, weil Tschitschikow so reich wie ein Jude war, wenn er nicht schon anderweitig verheiratet wäre und seine Frau sitzen gelassen hätte (woher man erfahren hatte, daß Tschitschikow verheiratet war, wußte niemand zu sagen); daß Tschitschikows Frau, die an ihrer hoffnungslosen Liebe litt, an den Gouverneur einen rührenden Brief gerichtet hatte, worauf Tschitschikow, da er sah, daß die Eltern niemals einwilligen würden, den Entschluß faßte, das Mädchen zu entführen. In anderen Häusern wurde die Geschichte etwas anders erzählt: Tschitschikow habe überhaupt keine Frau; da er aber ein fein berechnender und sicher gehender Mann sei, hätte er, um mit der Zeit die Hand der Tochter zu bekommen, den Anfang bei der Mutter gemacht und mit dieser ein kleines Techtelmechtel begonnen und dann erst um die Hand der Tochter angehalten; die Mutter aber hätte Angst bekommen, daß ein auch von der Religion verdammtes Verbrechen geschehen könne, und, von Gewissensbissen geplagt, Tschitschikow die Hand ihrer Tochter aufs entschiedenste verweigert, worauf sich dieser entschlossen habe, die Tochter zu entführen. Dazu kamen noch viele Erklärungen und Ergänzungen, die immer anwuchsen, je tiefer die Gerüchte in die entlegensten Gassen drangen. In Rußland lieben es die niederen Gesellschaftskreise überhaupt, von Klatschgeschichten aus den höheren Gesellschaftskreisen zu sprechen; darum fing man über diese Sache auch in solchen Häusern zu reden an, wo man Tschitschikow niemals gesehen hatte und gar nicht kannte; und so kamen neue Ergänzungen und Kommentare auf. Der Gegenstand wurde von Minute zu Minute interessanter, nahm von Tag zu Tag immer bestimmtere Formen an und kam schließlich in seiner letzten Vollendung der Gouverneurin selbst zu Ohren. Die Gouverneurin fühlte sich als Familienmutter, als die erste Dame der Stadt und schließlich als eine Dame schlechthin, die nichts Ähnliches geahnt hatte, durch diese Geschichte aufs tiefste gekränkt und geriet in eine in jeder Beziehung gerechte Empörung. Die arme Blondine hatte das unangenehmste tête-à-tête zu bestehen, das einem sechzehnjährigen jungen Mädchen je beschieden war. Es kam eine ganze Flut von Fragen, Untersuchungen, Rügen, Drohungen, Vorwürfen und Ermahnungen, so daß das junge Mädchen in Tränen ausbrach; sie schluchzte und konnte kein einziges Wort verstehen. Der Portier erhielt den strengsten Befehl, Tschitschikow zu keiner Stunde und unter keinem Vorwande vorzulassen.