Alle zweifelten aber sehr, daß Tschitschikow der Hauptmann Kopejkin sei, und fanden, daß der Postmeister doch etwas zu weit gegangen sei. Im übrigen zeigten sie, daß auch sie nicht auf den Kopf gefallen waren, und gingen, durch die geistreiche Vermutung des Postmeisters angeregt, vielleicht noch weiter als er. Unter den vielen in ihrer Art gescheiten Vermutungen war eine, die sogar seltsam klingt: daß Tschitschikow vielleicht der verkleidete Napoleon sei; die Engländer beneideten schon längst Rußland wegen seiner Größe und Ausdehnung, und man habe schon öfter Karikaturen gesehen, auf denen der Russe im Gespräch mit einem Engländer dargestellt sei: der Engländer hält hinter seinem Rücken einen Hund an der Leine, und unter diesem Hund sei Napoleon zu verstehen. »Nimm dich in acht,« sagt der Engländer, »wenn mir etwas nicht paßt, so laß ich gleich diesen Hund gegen dich los.« Vielleicht hätten sie ihn jetzt von St. Helena losgelassen; nun versuche er unter der Maske Tschitschikows nach Rußland zu kommen; Tschitschikow sei also in Wirklichkeit gar nicht Tschitschikow.
Die Beamten wollten dieser Geschichte natürlich nicht recht glauben, wurden aber immerhin nachdenklich, und ein jeder fand, wenn er sich die Sache für sich überlegte, daß Tschitschikows Gesicht, wenn er einem sein Profil zuwende, in der Tat eine große Ähnlichkeit mit Napoleon, wie er auf den Bildern dargestellt sei, habe. Der Polizeimeister, der die Campagne von 1812 mitgemacht und Napoleon persönlich gesehen hatte, mußte zugeben, daß Napoleon durchaus nicht größer als Tschitschikow und von Statur weder allzu dick noch allzu dünn gewesen sei. Vielleicht werden manche Leser dieses unwahrscheinlich finden; auch der Autor ist bereit, ihnen zuliebe es unwahrscheinlich zu finden; aber leider hat sich die Geschichte gerade so abgespielt, wie es hier berichtet wird, und zwar, was am erstaunlichsten ist, in einer Stadt, die nicht irgendwo in einer Wildnis, sondern gar nicht weit von den beiden Hauptstädten lag. Es muß übrigens festgestellt werden, daß dies alles sich bald nach der glorreichen Vertreibung der Franzosen abspielte. Um jene Zeit waren alle unsere Gutsbesitzer, Beamten, Kaufleute, Handlungsgehilfen und alle des Lesens kundigen wie auch unkundigen Leute für wenigstens acht Jahre passionierte Politiker geworden. Die »Moskauer Nachrichten« und der »Sohn des Vaterlandes« wurden dermaßen zerlesen, daß sie den letzten Leser in Form von Fetzen, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren, erreichten. An Stelle der Fragen: »Wie teuer haben Sie das Maß Hafer verkauft, Väterchen?« oder: »Wie haben Sie den gestrigen Schlittenweg ausgenützt?« – fragte man nur:
»Was schreibt man in den Zeitungen? Hat man Napoleon nicht wieder von seiner Insel losgelassen?« Die Kaufleute waren in größter Sorge, denn sie glaubten fest an die Prophezeiung eines Propheten, der schon seit drei Jahren im Zuchthaus saß. Dieser Prophet war, kein Mensch wußte woher, in Bastschuhen und einem nackten Schafspelz, welcher fürchterlich nach faulen Fischen roch, erschienen und hatte verkündigt, daß Napoleon der Antichrist sei und an einer steinernen Kette hinter sechs Mauern und sieben Meeren sitze; später einmal werde er aber die Kette zerreißen und sich der ganzen Welt bemächtigen. Der Prophet kam wegen dieser Prophezeiung, so wie es sich gehört, ins Zuchthaus, aber er hatte schon seine Sache gemacht und die Kaufmannschaft in Aufruhr versetzt. Lange noch pflegten die Kaufleute, wenn sie selbst die lohnendsten Geschäftsabschlüsse im Wirtshaus mit Tee feierten, über den Antichrist zu reden. Auch viele von den Beamten und vom Adel dachten unwillkürlich darüber nach und sahen, vom Mystizismus angesteckt, der damals bekanntlich in Mode war, in jedem Buchstaben des Wortes »Napoleon« einen tieferen Sinn; viele entdeckten in ihm sogar die apokalyptischen Zahlen. Daher ist es durchaus nicht merkwürdig, daß die Beamten anfingen, über diesen Punkt nachzudenken; bald kamen sie aber wieder zur Besinnung und merkten, daß ihre Phantasie durchgegangen war und daß sie nicht auf dem richtigen Wege waren. Lange dachten und redeten sie und kamen endlich zum Schluß, daß es vielleicht gar nicht so dumm wäre, Nosdrjow ordentlich auszufragen. Da er als erster die Geschichte von den toten Seelen verbreitet hatte, da er, wie man so sagt, irgendwelche intimen Beziehungen zu Tschitschikow unterhielt und zweifellos manches von seinen Lebensumständen wissen mußte, so wollte man mal hören, was Nosdrjow sagen würde.
Merkwürdige Menschen sind doch diese Herren Beamten und mit ihnen auch die übrigen Stände: alle wußten doch sehr gut, daß Nosdrjow ein Lügner war und daß man keinem seiner Worte, selbst in der unbedeutendsten Angelegenheit, Glauben schenken dürfe; und doch wandten sie sich gerade an ihn. Was soll man bloß mit manchem Menschen anfangen! Er glaubt nicht an Gott, glaubt aber, daß er, wenn ihn sein Nasenrücken juckt, ganz gewiß sterben werde; er schenkt dem Werke eines Dichters, welches so klar wie der Tag und ganz von Harmonie und der höchsten Weisheit der Einfachheit durchdrungen ist, keine Beachtung, stürzt sich aber auf ein Machwerk, in dem irgendein Frechling alles durcheinandergebracht und aus der Natur ein Zerrbild gemacht hat; dieses Machwerk gefällt ihm, und er ruft aus: »Das ist die echte Herzenserkenntnis!« Sein ganzes Leben lang hält er nichts von Ärzten, wendet sich aber zuletzt an ein altes Weib, das die Krankheiten mit Besprechen und Spucken kuriert, oder erfindet, was noch besser ist, selbst ein Dekokt aus irgendeinem Dreck, das ihm, Gott weiß warum, als das richtige Mittel gegen seine Krankheit erscheint. Natürlich könnte man die Herren Beamten mit ihrer schwierigen Lage entschuldigen. Der Ertrinkende klammert sich, wie man sagt, an einen Strohhalm, und es fällt ihm in diesem Augenblick gar nicht ein, daß auf so einem Strohhalm höchstens eine Fliege reiten kann, während er beinahe vier oder sogar fünf Pud wiegt; dieser Gedanke kommt ihm gar nicht in den Sinn, und er klammert sich an den Strohhalm. So klammerten sich unsere Herren schließlich an Nosdrjow. Der Polizeimeister schrieb ihm sofort ein Billett, in dem er ihn zum Abend einlud, und ein Revieraufseher in Reiterstiefeln und mit sympathisch roten Backen lief sofort, seinen Degen im Laufen festhaltend, zu Nosdrjow. Dieser war gerade mit einer sehr wichtigen Sache beschäftigt; seit vier Tagen kam er nicht aus seinem Zimmer, ließ keinen Menschen herein und bekam sogar das Mittagessen durchs Fenster; mit einem Wort, er war sogar abgemagert und grün im Gesicht geworden. Die Sache erforderte die größte Aufmerksamkeit: es handelte sich um die Auswahl eines Kartenspiels aus einigen hundert Taillen, auf das er ebenso sicher bauen könnte wie auf den besten Freund. Er hatte daran noch wenigstens zwei Wochen zu arbeiten; während dieser Zeit mußte Porfirij dem kleinen Bullenbeißer den Nabel mit einem besonderen Bürstchen reinigen und ihn dreimal am Tage mit Seife waschen. Nosdrjow war sehr aufgebracht, daß man ihn in seiner Einsamkeit gestört hatte; zunächst schickte er den Revieraufseher zum Teufel; als er jedoch dem Billett des Polizeimeisters entnahm, daß sich heute abend vielleicht etwas verdienen ließe, da irgendein Neuling erwartet werde, ließ er sich sofort erweichen, schloß sein Zimmer in aller Eile ab, zog die ersten besten Kleidungsstücke, die ihm in die Hand kamen, an und begab sich zu den Beamten. Die Aussagen, Behauptungen und Vermutungen Nosdrjows standen in einem so krassen Widerspruch zu denen der Herren Beamten, daß auch ihre letzten Hypothesen zusammenstürzten. Nosdrjow war entschieden ein Mann, für den es überhaupt keine Zweifel gab; so unsicher und schüchtern die Beamten in ihren Vermutungen waren, so sicher und überzeugt trat er auf. Er beantwortete alle Punkte, ohne zu stocken, erklärte, Tschitschikow habe für einige tausend Rubel tote Seelen eingekauft, und er habe ihm selbst welche verkauft, weil er keinen Grund sehe, warum er ihm keine verkaufen solle. Auf die Frage, ob Tschitschikow kein Spion sei und nicht etwas ausspionieren wolle, antwortete Nosdrjow, daß er wohl ein Spion sei; schon in der Schule, wo sie zusammen gewesen wären, hätte man ihn stets einen Spion genannt, und alle Mitschüler, darunter auch er, hätten ihn wegen seiner Angebereien einmal so verprügelt, daß man ihm nachher an den Schläfen allein zweihundertvierzig Blutegel ansetzen mußte; er wollte eigentlich vierzig sagen, aber die zweihundert kamen ihm irgendwie ganz von selbst von den Lippen. Auf die Frage, ob Tschitschikow nicht falsche Banknoten herstelle, antwortete er, daß er wohl welche herstelle; bei dieser Gelegenheit erzählte er eine Anekdote, die von Tschitschikows ungewöhnlicher Geschicklichkeit zeugte: als die Behörden erfahren hatten, daß er in seinem Hause für zwei Millionen falsche Banknoten habe, hatten sie alle Türen des Hauses versiegelt und vor jede Türe je zwei Wachposten gestellt; Tschitschikow brachte es aber fertig, sämtliche Banknoten in einer Nacht zu vertauschen, so daß man am nächsten Morgen, als man die Siegel abnahm, nur echte Banknoten vorfand. Auf die Frage, ob Tschitschikow wirklich die Absicht gehabt habe, die Gouverneurstochter zu entführen, und ob es wahr sei, daß er, Nosdrjow, es übernommen hätte, ihm in dieser Sache zu helfen, antwortete Nosdrjow, daß er ihm tatsächlich geholfen habe; wenn er ihm nicht beigestanden hätte, so wäre aus der Sache nichts geworden. Hier merkte er erst, daß diese Lüge ihn leicht ins Unglück stürzen könnte; aber er konnte seine Zunge nicht mehr im Zaume halten. Dies fiel ihm um so schwerer, als ganz von selbst so interessante Einzelheiten kamen, daß er auf sie unmöglich verzichten konnte: er nannte sogar das Dorf, in dessen Kirche die Trauung stattfinden sollte, nämlich das Dorf Truchmatschowka; der Pope P. Ssidor hätte für die Trauung fünfundsiebzig Rubel verlangt und wäre auf die Sache wohl gar nicht eingegangen, wenn er, Nosdrjow, ihm nicht mit der Drohung Angst gemacht hätte, ihn anzuzeigen, daß er den Mehlhändler Michailo mit einer Gevatterin getraut habe; er hätte Tschitschikow sogar seinen Wagen geliehen und auf allen Stationen Pferde bereitgestellt. Die Einzelheiten gingen so weit, daß er selbst die Postkutscher bei ihren Namen zu nennen anfing. Man versuchte die Rede auf Napoleon zu bringen, wurde aber dessen nicht froh, denn Nosdrjow fing einen Unsinn zu reden an, der nicht nur keine Ähnlichkeit mit der Wahrheit, sondern überhaupt mit nichts Ähnlichkeit hatte, so daß die Beamten aufseufzten und von ihm weggingen; nur der Polizeimeister allein hörte ihm noch lange zu, da er noch immer hoffte, daß vielleicht später etwas Vernünftiges kommen würde; zuletzt gab auch er jede Hoffnung auf und sagte: »Das ist, weiß der Teufel, was!« Und alle waren sich darin einig: »wie sehr man sich auch mit diesem Stier abplagt, so kriegt man von ihm doch keinen Tropfen Milch!« So befanden sich die Beamten in einer noch schlimmeren Lage als vorher, und die Sache endete mit der Feststellung, daß sie unmöglich erfahren können, wer Tschitschikow sei. Nun kam es an den Tag, was für ein Geschöpf der Mensch ist: er ist weise, klug und vernünftig in allen Dingen, die den anderen und nicht ihn selbst angehen. Was für umsichtige und sichere Ratschläge vermag er in schwierigen Lebenslagen zu zu erteilen! »Was für ein kluger, findiger Kopf!« schreit die Menge. »Was für ein unbeugsamer Charakter!« Wenn aber über diesen klugen Kopf irgendein Unglück hereinbricht und er selbst in eine schwierige Lebenslage kommt, – wo ist dann sein Charakter? Der unbeugsame Mann ist ganz ratlos und steht wie ein elender Feigling, wie ein ohnmächtiges, schwaches Kind da, oder einfach wie ein Waschlappen, wie sich Nosdrjow ausdrückte.