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Alle diese Gespräche, Vermutungen und Gerüchte wirkten aus irgendeinem Grunde am stärksten auf den armen Staatsanwalt. Sie machten auf ihn einen so starken Eindruck, daß er, nach Hause zurückgekehrt, zu grübeln anfing und plötzlich, wie man so sagt, mir nichts, dir nichts, den Geist aufgab. Ob ihn der Schlag oder etwas anderes getroffen hatte, weiß man nicht, doch er stürzte, wie er so saß, plötzlich vom Stuhle auf den Fußboden. Man schlug, wie es so geht, die Hände zusammen und schrie: »Ach, mein Gott!« Dann schickte man nach einem Arzt, um ihn zur Ader zu lassen, sah aber, daß der Staatsanwalt schon eine entseelte Leiche war. Jetzt erst erfuhr man mit Bedauern, daß der Verstorbene wirklich eine Seele gehabt, obwohl er sie in seiner Bescheidenheit niemals gezeigt hatte. Das Phänomen des Todes ist aber an einem unbedeutenden Menschen ebenso erschütternd wie an einem großen Mann; derjenige, der noch vor kurzem herumgegangen war, sich bewegt, Whist gespielt und allerlei Papiere unterschrieben hatte, der so oft unter den Beamten mit seinen buschigen Brauen und dem immer blinzelnden Auge zu sehen gewesen war, lag jetzt auf dem Tische, das linke Auge blinzelte nicht mehr, doch die Braue war noch immer wie fragend emporgezogen. Was der Verstorbene eigentlich fragte: wozu er gestorben war, oder wozu er gelebt hatte – das wußte Gott allein.

»Aber das ist doch Unsinn! Das widerspricht allen Gesetzen der Logik! Es ist unmöglich, daß die Beamten sich selbst solche Angst eingejagt, einen solchen Unsinn geschaffen und sich so weit von der Wahrheit entfernt haben konnten, wo doch auch ein Kind einsehen mußte, worum es sich hier handelte!« So werden manche Leser sprechen und dem Autor Mangel an Logik vorwerfen, oder aber die armen Beamten Dummköpfe nennen, denn der Mensch geht mit dem Worte »Dummkopf« sehr freigebig um und ist zwanzigmal am Tage bereit, es auf seinen Nächsten anzuwenden. Es genügt, unter zehn Eigenschaften eine einzige dumme zu haben, um, trotz der neun guten Eigenschaften, für einen Dummkopf gehalten zu werden. Der Leser hat es leicht zu urteilen, wenn er alles aus seinem ruhigen Winkel aus, von seinem hohen Standpunkte herab betrachtet, von wo aus er den ganzen Horizont überblicken kann und alles, was unten geschieht, wo der Mensch nur die allernächsten Dinge sehen kann. In der Weltchronik der Menschheit gibt es ja auch ganze Jahrhunderte, die man als überflüssig streichen und ausmerzen möchte. Gar viele Verirrungen hat es in der Menschheitsgeschichte gegeben, in die heute wohl nicht mal ein Kind verfallen würde. Was für krumme, dunkle, enge, unwegsame, abseits führende Straßen hat schon die Menschheit in ihrem Streben nach der ewigen Wahrheit eingeschlagen, während vor ihr ein gerader Weg lag, gleich dem Wege zum Prunkbau, der dem König zum Palast bestimmt ist! Von der Sonne bestrahlt und die ganze Nacht von Flammen erhellt, ist er breiter und prachtvoller als alle Wege; die Menschen gingen aber an ihm vorbei durch dichte Finsternis. Und wie oft brachten sie es fertig, selbst wenn der Himmel ihnen den wahren Weg gewiesen, von diesem abzuirren, am hellichten Tage in unwegsame Wüsteneien zu geraten, einander die Augen in Nebel zu hüllen und, Sumpflichtern folgend, an den Rand eines Abgrundes zu gelangen, um sich dann entsetzt zu fragen: »Wo ist der Ausweg, wo ist die Straße?« Jede lebende Generation sieht dieses klar ein; sie wundert sich über die Verirrungen, sie lacht über die Unvernunft ihrer Vorfahren, übersieht aber dabei, daß diese Chronik mit himmlischen Flammen geschrieben ist, daß jeder Buchstabe in ihr schreit, daß von allen Seiten ein Finger auf sie selbst, auf die lebende Generation hinweist; doch die lebende Generation lacht und beginnt stolz und selbstbewußt eine Reihe von neuen Verirrungen, über die die Nachkommen ebenso lachen werden.

Tschitschikow aber wußte von alledem nichts. Das Schicksal fügte es, daß er sich gerade um diese Zeit eine leichte Erkältung zuzog, dazu eine geschwollene Backe und eine kleine Halsentzündung, Erscheinungen, mit denen das Klima vieler unserer Gouvernementsstädte äußerst freigebig zu verfahren pflegt. Damit sein Lebensfaden, Gott behüte, nicht reiße, ehe er eine Nachkommenschaft gezeugt habe, entschloß er sich, lieber drei Tage das Zimmer zu hüten. Im Laufe dieser Tage gurgelte er beständig mit Milch, die mit einer Feige abgekocht war, welch letztere er jedesmal verzehrte, und trug ein Säckchen mit Kamillen und Kampfer an die Wange gebunden. Um die Zeit irgendwie totzuschlagen, fertigte er mehrere neue ausführliche Verzeichnisse der neuerworbenen Bauern an, las sogar einen Band der Herzogin von Lavallière, der sich zufällig in seinem Koffer fand, sah die verschiedenen Zettelchen und Gegenstände durch, die er in seiner Schatulle verwahrte, las manche noch einmal, und zuletzt wurde ihm dies alles langweilig. Er konnte sich unmöglich erklären, warum keiner der städtischen Beamten ihn besuchte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, während erst vor kurzem stets irgendeine Droschke vor seinem Gasthause gewartet hatte: entweder die des Postmeisters, oder die des Staatsanwalts, oder die des Kammervorsitzenden. Während er in seinem Zimmer auf und ab ging, zuckte er nur die Achseln. Endlich fühlte er sich etwas besser und war unsagbar froh, als er die Möglichkeit sah, wieder an die frische Luft zu gehen. Ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, machte er sich sofort an die Toilette, öffnete die Schatulle, goß heißes Wasser ins Glas, holte Pinsel und Seife hervor und fing mit dem Rasieren an, wozu es übrigens schon längst Zeit war: als er seinen Bart mit der Hand betastete und einen Blick in den Spiegel warf, rief er aus: »Gott, ist das ein Wald!« Es war zwar kein Wald, aber immerhin eine recht dichte Saat, die an seinen Wangen und Kinn aufgegangen war. Nachdem er sich rasiert hatte, zog er sich so schnell an, daß er dabei beinahe aus seiner Hose heraussprang. Endlich war er angekleidet, mit Kölnischem Wasser besprengt und trat, recht warm eingehüllt, vorsichtshalber mit verbundener Backe, auf die Straße. Sein Ausgang war wie der eines jeden nach einer Krankheit wiederhergestellten Menschen gleichsam ein Fest. Alles, was ihm in den Weg kam, schien zu lachen: die Häuser und die vorbeigehenden Bauern, die übrigens recht ernst dreinblickten und von denen schon mancher seinem Bruder eine Maulschelle versetzt hatte. Seinen ersten Besuch wollte er beim Gouverneur machen. Unterwegs kamen ihm verschiedene Gedanken in den Sinn: so dachte er an die Blondine, seine Phantasie ging ein wenig durch, und er begann schon selbst über sich zu lachen. In dieser Geistesverfassung langte er vor dem Hause des Gouverneurs an. Er hatte schon angefangen, im Flur eilig seinen Mantel abzulegen, als der Portier ihn durch folgende unerwartete Worte in Erstaunen versetzte: »Ich darf Sie nicht vorlassen!«