Dunkel und bescheiden ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren vom Adel, ob es aber alter oder persönlicher Adel war, das weiß Gott allein. Im Gesicht hatte er keine Ähnlichkeit mit ihnen: wenigstens hatte eine Verwandte, die bei seiner Geburt anwesend war, eine kleine, kurze Frau, wie man sie »Kiebitz« zu nennen pflegt, nachdem sie das Kind auf die Arme genommen, ausgerufen: »Er ist doch ganz anders geraten, als ich erwartet hatte! Er hätte doch der Großmutter mütterlicherseits ähnlich sehen sollen, was auch sicher das beste für ihn wäre, er ist aber, wie das Sprichwort sagt, ›weder Mutter noch Vater, sondern einem durchreisenden Gesellen‹ nachgeraten.« Das Leben sah ihn anfangs mit einer sauren, unfreundlichen Miene durch ein trübes, schneeverwehtes Fenster an; keinen Freund, keinen Gespielen hatte er in seinen Kinderjahren! Ein kleines Zimmerchen mit kleinen Fensterchen, die weder im Sommer noch im Winter geöffnet wurden; der Vater – ein kranker Mann in einem langen, mit Lammfell gefütterten Rock und gestrickten Pantoffeln, die er auf den bloßen Füßen trug, ein Mann, der im Aufundabgehen unaufhörlich seufzte und in den in der Ecke stehenden Sandnapf spuckte; das ewige Sitzen auf der Bank mit der Feder in der Hand und Tinte auf den Fingern und selbst auf den Lippen; die ewige Vorschrift vor den Augen: »Lüge nicht, folge den Erwachsenen und trage die Tugend in deinem Herzen«; das ewige Scharren und Schlürfen der Pantoffeln durchs Zimmer und die wohlvertraute, doch immer strenge Stimme: »Wieder machst du Dummheiten!«, die immer ertönte, wenn das Kind, der Einförmigkeit seiner Arbeit überdrüssig, an irgendeinem Buchstaben einen Schnörkel oder einen Schwanz anbrachte; und das ewig bekannte und immer unangenehme Gefühl, wenn nach diesen Worten sein Ohr sehr schmerzvoll von den Nägeln der langen, von hinten heranlangenden Finger zusammengekniffen wurde: das ist das elende Bild seiner frühesten Kindheit, von der er kaum eine blasse Erinnerung bewahrt hat. Aber alles ändert sich im Leben schnell und schleunig: eines Tages, als die erste Frühlingssonne leuchtete und die Frühlingsgewässer rieselten, setzte sich der Vater mit seinem Sohn in einen kleinen Wagen, den ein braungeschecktes Pferdchen schleppte, von der Art, wie sie von den Pferdehändlern »Elstern« genannt werden; den Wagen lenkte ein kleiner buckliger Kutscher, der Stammvater der einzigen leibeigenen Familie, die dem Vater Tschitschikows gehörte, ein Mann, der im Hause fast alle Ämter versah. Mit dieser Elster fuhren sie mehr als anderthalb Tage; unterwegs übernachteten sie, fuhren durch einen Fluß, aßen kalten Fleischkuchen und Hammelbraten und erreichten erst am Morgen des dritten Tages die Stadt. Den Knaben überraschten die unerwartet prächtigen Straßen, die er einige Minuten lang mit weit aufgerissenem Munde betrachtete. Dann plumpste die Elster mit dem Wagen in eine Grube, mit der eine enge Gasse begann, die abwärts strebte und voller Schmutz war; lange arbeitete sie dort aus aller Kraft, zappelte mit den Beinen und zog schließlich, vom buckligen Kutscher und vom Herrn selbst angespornt, den Wagen in einen kleinen Hof, der auf dem Abhange lag; auf dem Hofe befand sich ein altes Häuschen, vor dem zwei Apfelbäume blühten und hinter dem ein kleines niedriges Gärtchen lag, das nur aus Ebereschen und Holundersträuchen bestand und eine kleine Bretterhütte mit einem Schindeldach und einem schmalen trüben Fensterchen in sich barg. Hier wohnte eine Verwandte, eine schwache Alte, die aber noch immer jeden Morgen auf den Markt ging und nachher ihre Strümpfe am Samowar trocknete. Sie tätschelte dem Jungen die Wangen und bewunderte seine Körperfülle. Bei dieser Alten mußte er nun bleiben und jeden Tag in die städtische Schule gehen. Der Vater übernachtete und fuhr gleich am nächsten Morgen wieder ab. Beim Abschied vergoß er keine Träne; er schenkte dem Sohne einen halben Rubel in Kupfer für seine Ausgaben und Näschereien und gab, was viel wichtiger war, eine kleine Belehrung dazu: »Paß auf, Pawluscha: lerne fleißig, mach’ keine Dummheiten, sei kein Schlingel; bemühe dich aber vor allem, deinen Lehrern und Vorgesetzten gefällig zu sein. Wenn du deinem Vorgesetzten immer gefällig bist, so wirst du, auch wenn du keine Fortschritte im Lernen machst und Gott dir keine Talente gegeben hat, doch deinen Weg machen und alle überholen. Halte dich von deinen Kameraden fern: sie werden dich nichts Gutes lehren; und wenn du schon mit jemand verkehrst, so suche dir die Reicheren aus, die dir bei Gelegenheit nützlich sein werden. Halte niemand frei; benimm dich lieber so, daß die anderen dich freihalten; vor allen Dingen spare aber jede Kopeke: sie ist zuverlässiger als alles in der Welt. Ein Kamerad oder Freund wird dich begaunern und im Unglück verraten, die Kopeke bleibt dir aber auch in der größten Not treu. Mit der Kopeke kannst du alles erreichen und jedes Hindernis überwinden.« Nachdem er ihm diese Lehre erteilt hatte, verabschiedete sich der Vater von seinem Sohne und ließ sich von der Elster nach Hause schleppen; Pawluscha sah ihn nie wieder, aber seine Worte und Lehren drangen ihm tief ins Herz.
Pawluscha begann gleich am folgenden Tage die Schule zu besuchen. Besondere Fähigkeiten für irgendeine bestimmte Wissenschaft waren an ihm nicht zu erkennen; er zeichnete sich mehr durch Fleiß und Sauberkeit aus; zeigte großen Verstand in praktischen Dingen. Er erfaßte sofort die Situation und stellte sich zu seinen Kameraden so, daß sie ihn freihielten, er sie aber nicht nur niemals freihielt, sondern zuweilen auch ihre Gaben auf die Seite tat, um sie später ihnen selbst zu verkaufen. Schon als Kind übte er Enthaltsamkeit. Von dem halben Rubel, den ihm sein Vater geschenkt hatte, gab er keine Kopeke aus; im Gegenteiclass="underline" er vergrößerte schon im Laufe des ersten Jahres dieses Kapital, wobei er einen ungewöhnlichen Geschäftssinn zeigte. Er knetete aus Wachs einen Gimpel, strich ihn an und verkaufte ihn mit großem Vorteil. Nach einiger Zeit ließ er sich auf andere Spekulationen ein: er kaufte auf dem Markte allerlei Eßwaren ein und setzte sich dann in der Klasse neben die reicheren Schüler; sobald er merkte, daß es einem Kameraden übel wurde – was auf den beginnenden Hunger hinwies –, so zeigte er ihm wie zufällig aus der Bank den Rand eines Lebkuchens oder einer Semmel; nachdem er dem anderen auf diese Weise ordentlich Appetit gemacht hatte, verkaufte er ihm das Backwerk zu einem Preis, der dem Appetit des Betreffenden entsprach. Zwei Monate gab er sich in seiner Wohnung unermüdlich mit einer Maus ab, die er in einen kleinen Holzkäfig eingesperrt hatte, und erreichte es schließlich, daß die Maus Männchen machen und auf Kommando sich hinlegen und wieder aufstehen konnte; dann verkaufte er sie gleichfalls sehr vorteilhaft. Als er auf diese Weise fünf Rubel zurückgelegt hatte, nähte er das Säckchen zu und begann ein neues mit Geld zu füllen. Gegen die Obrigkeit benahm er sich noch klüger. Niemand verstand so schön ruhig auf seiner Bank zu sitzen wie er. Es ist zu bemerken, daß der Lehrer die Ruhe und das gute Betragen über alles schätzte und die klugen und aufgeweckten Jungen nicht ausstehen konnte; er glaubte immer, daß diese über ihn lachen müßten. Einer, der ihm nur einmal durch seinen Witz aufgefallen war, brauchte sich nur zu rühren oder ohne jede böse Absicht mit der Wimper zu zucken, um den ganzen Zorn des Lehrers heraufzubeschwören. Einen solchen Schüler verfolgte und bestrafte er ohne jede Nachsicht. »Ich werde dir deinen Hochmut und Trotz schon austreiben!« pflegte er zu sagen. »Ich kenne dich durch und durch, so wie du dich selbst nicht kennst. Du wirst mir die ganze Stunde knien müssen! Du wirst auch das Hungern lernen!« Und der arme Junge mußte, ohne selbst zu wissen, warum, sich die Knie wund reiben und ganze Tage hungern. »Fähigkeiten und Begabung sind Unsinn!« pflegte der Lehrer zu sagen. »Ich sehe nur auf Betragen. Einer, der einen Buchstaben vom anderen nicht unterscheiden kann, sich aber gut benimmt, bekommt von mir in allen Fächern die besten Noten; aber einem, an dem ich eine schlechte Geistesrichtung und Spottlust bemerke, gebe ich eine Null, und wenn er auch den Solon an Weisheit übertrifft!« So sprach dieser Lehrer, der den Fabeldichter Krylow wie den Tod haßte, weil dieser mal gesagt hatte: »Sauf soviel du willst, wenn du nur deine Sache verstehst«, und der mit freudestrahlendem Gesicht zu erzählen pflegte, daß in der Schule, in der er früher unterrichtet hatte, eine solche Stille geherrscht habe, daß man eine Fliege vorbeifliegen hören konnte, daß keiner von den Schülern im Laufe des ganzen Jahres während des Unterrichts gehustet oder sich geschneuzt habe und daß man bis zum Glockenzeichen mit dem bloßen Gehör nicht hätte erkennen können, ob jemand in der Klasse war oder nicht. Tschitschikow erfaßte sofort den Geist dieses Lehrers und begriff, wie er sich zu benehmen hatte. Während der ganzen Stunde bewegte er kein Auge und zuckte nicht mit der Wimper, und wenn man ihn von hinten noch so zwickte; sobald das Glockenzeichen ertönte, sprang er Hals über Kopf auf und reichte dem Lehrer als erster die Mütze mit den drei Klappen (der Lehrer trug stets eine Mütze mit drei Klappen); nachdem er ihm die Mütze gereicht hatte, verließ er als erster das Klassenzimmer und bemühte sich, dem Lehrer auf dessen Heimwege mindestens dreimal zu begegnen, wobei er jedesmal vor ihm die Mütze zog. Diese Politik hatte vollen Erfolg. Während der ganzen Schulzeit war er stets gut angeschrieben; beim Verlassen der Schule bekam er aber die besten Noten in allen Gegenständen, ein lobendes Attest und ein Buch mit der goldenen Inschrift: »Für musterhaften Fleiß und vorzügliches Betragen.« Er verließ die Schule als Jüngling von recht sympathischem Äußern, mit einem Kinn, das schon nach dem Rasiermesser verlangte. Um diese Zeit starb sein Vater. Die Erbschaft bestand aus vier gänzlich abgetragenen Unterjacken, zwei alten, mit Lammfell gefütterten Röcken und einer ganz kleinen Geldsumme. Der Vater verstand offenbar nur, gute Lehren über das Sparen zu erteilen, hatte aber selbst gar nichts gespart. Tschitschikow verkaufte sofort das baufällige Häuschen mit dem unbedeutenden Grundbesitz für tausend Rubel und übersiedelte mit der leibeigenen Familie in die Stadt, in der Absicht, sich da niederzulassen und in den Staatsdienst zu treten. Um diese Zeit wurde der arme Lehrer, der so sehr die Ruhe und das gute Betragen schätzte, wegen Dummheit oder wegen eines anderen Vergehens aus der Schule gejagt. Vor Kummer begann er zu trinken; bald hatte er kein Geld mehr dazu; krank, ohne ein Stück Brot und ohne Hilfe darbte er, ganz verlassen, in einem ungeheizten Loch. Als seine früheren Schüler, die Klugen und Aufgeweckten, in denen er immer Trotz und Hochmut gewittert hatte, von seiner elenden Lage erfuhren, sammelten sie für ihn sofort einen gewissen Geldbetrag, wobei mancher manchen Gegenstand, den er wirklich brauchte, verkaufte; nur Pawluscha Tschitschikow allein beteiligte sich nicht an der Kollekte, unter dem Vorwande, daß er nichts habe, und gab nur ein silbernes Fünfkopekenstück, das ihm die Kameraden mit den Worten: »Ach, du Geizhals!« vor die Füße warfen. Der arme Lehrer bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, als er von dieser Tat seiner ehemaligen Schüler erfuhr; die Tränen flossen aus seinen erloschenen Augen in Strömen wie bei einem schwachen Kinde. »Auf dem Totenbette läßt mich Gott weinen!« sagte er mit schwacher Stimme; und als man ihm über Tschitschikow berichtete, seufzte er schwer auf und fügte hinzu: »Ach, Pawluscha! Wie ändert sich doch der Mensch! Was warst du doch für ein braver Junge, ohne die geringste Unart, weich wie Seide! Wie furchtbar hast du mich betrogen!«