Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Warum soll man die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens schildern und zu diesem Zwecke die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholen? Was soll man aber machen, wenn der Verfasser einmal so veranlagt ist und, an seiner eigenen Unvollkommenheit krank, nichts anderes darzustellen vermag als die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens, zu welchem Zweck er die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholt? Und so sind wir wieder in die Wildnis, in eine Sackgasse geraten. Was ist das aber da für eine Wildnis und was für eine Sackgasse!
Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Ecktürmen und Bastionen zog sich in Windungen mehr als tausend Werst weit eine Hügelkette hin. Majestätisch erhoben sich die Anhöhen über die grenzenlosen Räume der Ebene, bald als senkrechte Wände voller Löcher und Risse, mit Kalk und Ton an den Bruchstellen, bald als anmutig gerundete grüne Kuppen mit jungem Gebüsch, das zwischen umgehauenen Bäumen wucherte, wie mit krausem Lammfell bedeckt, und bald als dunkles Waldesdickicht, das wie durch ein Wunder von der Axt verschont blieb. Der Fluß blieb bald seinen Ufern treu und machte mit ihnen alle Windungen mit, bald verließ er sie, um sich über die Wiesen zu ergießen, um nach einigen in der Sonne wie Feuer leuchtenden Krümmungen in einem Gehölz von Birken, Espen und Erlen zu verschwinden und daraus wieder, in Begleitung von Brücken, Mühlen und Dämmen, die ihn bei jeder Wendung zu verfolgen schienen, im Triumph zum Vorschein zu kommen.
An einer Stelle war der steile Abhang besonders dicht mit grünem, lockigem Baumlaub geschmückt. Durch künstliche Anpflanzung hatten sich hier infolge der Unebenheit des Abhanges der Nord und der Süd des Pflanzenreiches zusammengefunden. Eichen, Tannen, wilde Birnen, Ahorne, Kirschbäume und Schlehen, Kleebäume und von Hopfen umrankte Ebereschen kletterten, einander bald im Wachstum unterstützend und bald erstickend, die ganze Anhöhe von unten bis oben hinauf. Und oben am Scheitel mischten sich unter die grünen Baumwipfel die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebelbalken und Dachfirste der sich hinter diesen verbergenden Bauernhäuser und das Obergeschoß des Herrenhauses mit dem geschnitzten Balkon und dem großen halbrunden Fenster. Und über dieser Versammlung der Bäume und Dächer ragte mit ihren fünf vergoldeten, in der Sonne funkelnden Kuppeln die alte hölzerne Kirche. Auf jeder der Kuppeln erhob sich ein durchbrochenes goldenes Kreuz, von goldenen durchbrochenen Ketten gehalten, so daß man aus der Ferne funkelndes und glühendes Dukatengold frei in der Luft, von nichts gestützt, zu sehen glaubte. Und dies alles spiegelte sich mit nach unten gewendeten Wipfeln, Dächern und Kreuzen anmutig im Flusse, wo die unförmigen hohlen Weiden, von denen die einen am Ufer und die anderen im Wasser standen, in das sie ihre vom schleimigen Flußschwamm, der auf dem Wasser zugleich mit den gelben Seerosen trieb, umsponnenen Zweige und Blätter tauchten, dieses herrliche Bild zu betrachten schienen.
Das Bild war sehr, sehr schön, doch die Aussicht von oben, vom Obergeschoß des Herrenhauses in die Ferne war noch schöner. Kein Gast, kein Besucher konnte auf diesem Balkon gleichgültig bleiben. Vor Staunen stockte ihm der Atem, und er rief bloß aus: »Gott, dieser schöne freie Raum!« Ohne Ende, ohne Grenzen dehnte sich die Ferne: hinter den mit Gehölz und Wassermühlen übersäten Wiesen grünten in mehreren Streifen die Wälder; hinter den Wäldern schimmerten durch die Luft, die allmählich neblig wurde, gelbe Sandflächen, und dann kamen wieder Wälder, aber schon so blau wie das Meer oder wie der sich weit ausbreitende Nebel. Und dann kamen wieder Sandflächen, immer blasser, aber immer noch gelb. Am fernen Horizonte erhob sich der Kamm eines Kreidegebirges, das auch bei trübem Wetter weiß schimmerte, wie von ewiger Sonne beleuchtet. Auf seiner blendenden Weiße, an seiner Sohle, die stellenweise aus Gips bestand, lagen hier und da rauchgraue Flecken. Das waren ferne Dörfer; aber kein Menschenauge vermochte sie zu unterscheiden. Nur der in der Sonne aufleuchtende Funken einer goldenen Kirchenkuppel ließ ahnen, daß da ein gut bevölkertes, großes Dorf war. Dies alles war in eine tiefe Stille gehüllt, die nicht einmal von dem das Ohr kaum erreichenden Widerhall der in der Ferne ersterbenden Lieder der Sänger der Lüfte gestört wurde. Mit einem Worte, der Gast, der auf dem Balkon stand, vermochte selbst nach einem zweistündigen Verweilen nichts anderes zu sagen als: »Gott, dieser schöne freie Raum!«
Wer war aber der Bewohner und Besitzer dieses Gutes, an das man von dieser Seite wie an eine unbezwingbare Festung gar nicht herankommen konnte und das nur von der anderen Seite zu erreichen war, wo die verstreuten Eichen den herannahenden Gast freundlich begrüßten, ihm wie Freundesarme ihre weitverzweigten Äste entgegenstreckend und ihn bis vor die Fassade jenes Hauses begleitend, dessen Obergeschoß wir schon von hinten gesehen haben und das nun ganz offen dalag zwischen einer Reihe von Bauernhäusern mit geschnitzten Giebelbalken und Dachfirsten einerseits und der Kirche mit den glänzenden goldenen Kreuzen und dem Gitterwerk der in der Luft hängenden goldenen Ketten andererseits. Welchem Glücklichen gehörte dieser versteckte Besitz?
Dem Gutsbesitzer des Tremalachanschen Kreises, Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow, einem jungen dreiunddreißigjährigen Glücklichen, der obendrein auch noch unverheiratet war.
Wer ist er, was ist er, wie sind seine Eigenschaften, wie sein Charakter? Darüber muß man die Nachbarn befragen, liebe Leserinnen. Ein Nachbar, der zu der Gattung der heute schon im Aussterben begriffenen schneidigen Stabsoffiziere a. D. und Draufgänger gehörte, äußerte sich über ihn: »Ein ganz gemeines Vieh!« Der General, der in einer Entfernung von zehn Werst von ihm wohnte, pflegte zu sagen: »Ein gar nicht dummer junger Mann, bildet sich aber zuviel ein. Ich könnte ihm nützlich sein, denn ich habe Verbindungen in Petersburg und sogar beim ...« Der General sprach diesen Satz nicht zu Ende. Der Polizeihauptmann gab aber seiner Antwort folgende Wendung: »Ich will ihn gleich morgen wegen der rückständigen Steuern besuchen!« Und wenn man einen Bauer aus dem Dorfe befragte, wie der Herr sei, so gab er überhaupt keine Antwort. Die Ansichten über ihn waren also gar nicht günstig.
Doch unbefangen betrachtet, war er kein schlechter Mensch, er lief aber unnütz in der Welt herum. Da es wahrlich genug Menschen gibt, die unnütz in der Welt herumlaufen, warum sollte auch Tjentjetnikow nicht dasselbe tun? Hier ist übrigens ein aufs Geratewohl herausgegriffener Tag aus seinem Leben, der jedem anderen Tag dieses Lebens gleicht; der Leser möge danach selbst urteilen, was er für ein Mensch war und inwiefern sein Leben den Naturschönheiten, die ihn umgaben, entsprach.
Des Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann sehr lange im Bett zu sitzen und sich die Augen zu reiben. Und da seine Augen unglücklicherweise sehr klein waren, dauerte dieses Reiben sehr lange; währenddessen stand sein Diener Michailo mit einem Waschbecken und einem Handtuch in der Türe. Dieser arme Michailo mußte eine ganze Stunde, sogar zwei Stunden dastehen; dann ging er in die Küche und kam wieder zurück – sein Herr saß aber noch immer im Bett und rieb sich die Augen. Endlich stand er auf, wusch sich, zog seinen Schlafrock an und begab sich in den Salon, um Tee, Kaffee, Kakao oder sogar kuhwarme Milch zu trinken; er trank alles schluckweise, streute dabei eine Menge Brotkrumen umher und überschüttete alles ganz abscheulich mit Pfeifenasche. An die zwei Stunden saß er so bei seinem Morgentee. Aber auch das genügte noch nicht: er nahm die erkaltete Tasse und trat mit ihr ans Fenster, das auf den Hof hinausging. Vor diesem Fenster spielte sich alltäglich folgende Szene ab.