Zunächst brüllte Grigorij, der Leibeigene, der im Range eines Küchenverwalters stand, indem er sich an die Haushälterin Perfiljewna mit beiläufig folgenden Worten wandte: »Du empörendes Geschöpf, du elende Null! Du solltest lieber schweigen, gemeines Frauenzimmer!«
»Willst du nicht so etwas haben?« schrie die Null, auch Perfiljewna genannt, ihm eine Feige zeigend. Dieses Weib war in ihren Handlungen roh, obwohl sie große Liebhaberin von Rosinen, Fruchtpasten und sonstigen Näschereien war, die sie in der Speisekammer verschlossen hielt.
»Du wirst es noch mit dem Verwalter zu tun bekommen, du Kehricht«, brüllte Grigorij.
»Der Verwalter ist genau solch ein Dieb wie du. Glaubst du, der Herr kennt euch nicht? Er ist doch hier und hört alles.«
»Wo ist der Herr?«
»Da sitzt er ja am Fenster und sieht alles.«
Der Herr saß in der Tat am Fenster und sah alles.
Um die Hölle noch zu vervollständigen, brüllte ein leibeigenes Kind, das von seiner Mutter eine Ohrfeige bekommen hatte, und winselte ein junger Windhund, mit dem Hinterteil auf der Erde sitzend, nachdem er vom Koch mit heißem Wasser verbrüht worden war. Mit einem Worte, alles heulte und winselte unerträglich. Der Herr sah und hörte alles. Und nur wenn der Lärm so unerträglich wurde, daß er ihn selbst in seinem Nichtstun störte, schickte er jemand hinaus, den Leuten zu sagen, sie möchten doch etwas leiser lärmen.
Zwei Stunden vor dem Mittagessen zog er sich in sein Kabinett zurück, um sich ernsthaft an sein Werk zu machen, das ganz Rußland von allen möglichen Standpunkten behandeln sollte: vom bürgerlichen, vom religiösen und vom philosophischen; das ferner die schwierigen Aufgaben und Fragen, vor die die Zeit unser Rußland gestellt hatte, lösen und seine große Zukunft genau bestimmen sollte; mit einem Worte, er faßte die Aufgabe so auf, wie sie ein moderner Mensch gern auffaßt. Dieses kolossale Vorhaben beschränkte sich übrigens vorerst nur auf das Nachdenken: er kaute an seiner Feder, bedeckte das Papier mit Zeichnungen, schob dann alles beiseite und nahm statt dessen irgendein Buch in die Hand, das er bis zum Mittagessen nicht mehr fortlegte. In diesem Buche las er bei der Suppe, bei der Soße, beim Braten und selbst beim Kuchen, so daß manche Speisen kalt wurden und andere überhaupt unberührt blieben. Dann kam die Pfeife, eine Tasse Kaffee und eine Partie Schach mit sich selbst. Was er nachher bis zum Abendessen trieb, ist wirklich schwer zu sagen. Ich glaube, er trieb gar nichts.
So verbrachte seine Zeit mutterseelenallein der junge dreiunddreißigjährige Mann, unbeweglich, immer im Schlafrock und ohne Halsbinde. Er hatte keine Lust auszugehen, Spaziergänge zu machen, nicht einmal ins Obergeschoß hinaufzugehen, nicht einmal ein Fenster zu öffnen, um etwas frische Luft ins Zimmer hineinzulassen, und die schöne Aussicht auf das Dorf, die kein Besucher gleichgültig sehen konnte, schien für den Besitzer überhaupt nicht zu existieren. Daraus kann der Leser schließen, daß Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow zu der Gattung der Leute gehörte, die in Rußland nicht alle werden und die man früher Schlafmützen, Siebenschläfer und Faulenzer zu nennen pflegte; wie man sie heute nennt, weiß ich wirklich nicht. Werden solche Charaktere geboren oder bilden sie sich erst später als Folge trauriger Umstände, die das Leben des Menschen begleiten? Statt diese Frage zu beantworten, wollen wir lieber die Geschichte seiner Erziehung und Kindheit erzählen.
Alles schien darauf abzuzielen, daß aus ihm etwas Gescheites werden sollte. Der zwölfjährige Junge, scharfsinnig, nachdenklich und etwas kränklich, kam in eine Lehranstalt, die um jene Zeit von einem ungewöhnlichen Menschen geleitet wurde. Der Abgott der Jünglinge, das Wunder in den Augen aller Erzieher, der unvergleichliche Alexander Petrowitsch, war mit einem wunderbaren Spürsinn begabt . . . Wie gut kannte er die Eigentümlichkeiten des russischen Menschen! Wie gut kannte er die Kinder! Wie gut verstand er es, sie vorwärts zu bringen! Es gab keinen noch so ausgelassenen Bengel, der, nachdem er etwas angestellt hatte, nicht selbst zu ihm käme, um eine Beichte abzulegen. Und noch mehr als das: er bekam eine strenge . . ., doch der Bengel verließ ihn nicht mit hängender, sondern mit stolz erhobener Nase. Es lag etwas Ermunterndes in seinen Worten: »Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder, und wenn du auch gefallen bist!« Nie sprach er zu ihnen vom guten Betragen. Gewöhnlich sagte er: »Ich verlange nur Vernunft und nichts anderes. Wer nur danach strebt, vernünftig zu sein, der stellt niemals böse Streiche an: jede Ausgelassenheit muß ganz von selbst schwinden.« Und die Ausgelassenheit schwand wirklich von selbst. Von allen seinen Kollegen wurde der Schüler verachtet, der nicht danach strebte, ein . . . Die erwachsenen Esel und Dummköpfe mußten sich seitens der Jüngsten die beleidigendsten Spitznamen gefallen lassen und wagten es nicht, sie auch nur anzurühren. »Das ist schon zuviel!« sagten manche: »Aus diesen klugen Kindern werden gar zu hochmütige Männer werden.« – »Nein, das ist nicht zuviel«, sagte er darauf. »Unbegabte Kinder behalte ich nicht lange; diesen genügt ein gewöhnlicher Kursus, für die Klugen habe ich aber noch einen zweiten Kursus.« Alle Begabten machten bei ihm in der Tat einen zweiten Kursus durch. Manche allzu lebhaften Regungen unterdrückte er nicht, da er in ihnen den Anfang der Entwicklung seelischer Eigenschaften sah; er pflegte zu sagen, er brauche sie, wie der Arzt die Ausschläge braucht, um mit Sicherheit zu erfahren, was im Menschen eigentlich steckt.
Wie liebten ihn die Knaben! Nein, niemals haben noch Kinder so an ihren Eltern gehangen. Selbst in den tollen Jahren der tollen Verirrungen gibt es keine so starke und unauslöschliche Leidenschaft, wie es die Liebe der Schüler zu ihm war. Bis zum Grabe, bis zu seinen letzten Tagen hob der dankbare Schüler am Geburtstage seines herrlichen Erziehers, der schon längst im Grabe lag, seinen Pokal . . ., schloß die Augen und vergoß Tränen. Ein einziges ermunterndes Wort aus seinem Munde ließ den Schüler vor Freude erzittern und weckte in ihm das ehrgeizige Streben, alle zu übertreffen. Die wenig Begabten behielt er nicht lange: für sie hatte er einen kurzen Lehrgang; doch die Begabten mußten die doppelte Lehrzeit absolvieren. Und die letzte Klasse, die aus lauter Auserwählten bestand, glich so gar nicht den letzten Klassen der anderen Lehranstalten. Erst hier verlangte er von seinen Schülern das, was andere Lehrer unvernünftigerweise von den Kindern verlangen: jenen höheren Verstand, der es fertigbringt, sich des Spottes zu enthalten, dabei aber jeden Spott zu ertragen, dem Dummen alles zu verzeihen, sich nicht aufzuregen, in keinem Falle Rache zu üben und die stolze Ruhe der unerschütterlichen Seele zu bewahren; alles, was geeignet ist, aus einem Menschen einen charakterfesten Mann zu machen, wandte er an und stellte selbst unaufhörliche Versuche mit seinen Zöglingen an. Oh, wie gut kannte er die Wissenschaft des Lebens!
Er hatte an seiner Anstalt nicht viele Lehrer. Die meisten Fächer dozierte er selbst. Ohne pedantische Fachausdrücke, ohne aufgeblasene Theorien und Anschauungen verstand er es, die Seele der Wissenschaft mitzuteilen, so daß auch der Jüngste sehen konnte, wozu er die betreffende Wissenschaft brauchte. Von allen Wissenschaften wählte er nur solche, die geeignet waren, den Menschen zu einem Staatsbürger zu machen. Der größte Teil seiner Vorlesungen bestand aus Erzählungen darüber, was den Jüngling in der Zukunft erwartete, und er verstand es, den Horizont dessen Lebensweges so zu umreißen, daß der Jüngling schon auf der Schulbank mit allen seinen Gedanken im Staatsdienste war. Nichts verheimlichte er vor ihm: alle Enttäuschungen und Hindernisse, die der Mensch auf seinem Lebenswege zu überwinden hat, alle Versuchungen und Lockungen, die ihn erwarten, zeigte er ihm in ihrer ganzen Nacktheit, ohne vor ihm etwas zu verbergen. Alles kannte er so genau, wie wenn er alle Ämter und Berufe schon ausgeübt hätte. Lag es am Ehrgeiz, der im Jüngling so früh angeregt wurde, oder daran, daß schon im Blicke dieses ungewöhnlichen Erziehers etwas war, was dem Jüngling »Vorwärts« zuzurufen schien, dieses jedem Russen wohl vertraute Wort, das an seiner empfindlichen Natur solche Wunder wirkt – kurz, der Jüngling strebte gleich am Anfang nach Schwierigkeiten und dürstete nach Handlungen, die die meisten Schwierigkeiten und Hindernisse boten, bei denen es galt, große Seelenkraft zu zeigen. Nur ganz wenige absolvierten diesen Kursus, dafür waren es lauter starke, gleichsam von Pulverrauch geschwärzte Menschen. Im Staatsdienste behaupteten sie sich auf den schwierigsten Posten, auf denen sich andere, die sogar klüger waren, infolge kleinlicher Unannehmlichkeiten nicht halten konnten: diese gaben die Stelle entweder auf oder gerieten, träge und gleichgültig geworden, in die Gewalt von bestechlichen Kollegen und Gaunern. Sie standen aber ohne zu wanken auf ihren Posten und hatten sogar, da sie das Leben und den Menschen kannten und durch Erfahrung gewitzigt waren, einen starken Einfluß selbst auf die Schlechten.