Tjentjetnikow gewöhnte sich bald an den Dienst; dieser wurde ihm aber nicht zur Hauptsache und zum Lebensziel, wie er anfangs gehofft hatte, sondern zu einer Angelegenheit zweiten Ranges. Er diente ihm zur besseren Einteilung seiner Zeit, indem er ihn zwang, die ihm bleibenden freien Stunden besonders zu schätzen. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat, glaubte schon, daß aus seinem Neffen etwas Gescheites werden würde, doch der Neffe machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Unter den Freunden Andrej Iwanowitschs, von denen er recht viele hatte, befanden sich zwei, die zu den sogenannten »verbitterten« Menschen zu zählen wären. Sie gehörten zu jenen unruhigen und seltsamen Charakteren, die nicht nur keine Ungerechtigkeit, sondern auch nichts, was ihnen als eine Ungerechtigkeit erschien, ruhig mitansehen können. Im Grunde gutmütig, doch in ihren Handlungen unordentlich, verlangten sie von den anderen jede Rücksicht, waren aber selbst unduldsam gegen alle anderen; durch ihre feurigen Reden und durch ihre edle Entrüstung gegen die Gesellschaft machten sie auf Tjentjetnikow einen starken Eindruck. Sie machten ihn nervös, weckten in ihm den Geist der Reizbarkeit und zwangen ihn, alle die Kleinigkeiten zu beachten, denen er früher auch nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Fjodor Fjodorowitsch Ljenizyn, der Vorstand einer der Abteilungen, die sich im prunkvollen Saale befanden, mißfiel ihm plötzlich. Er fand an ihm plötzlich eine Menge Fehler. Es schien ihm, daß Ljenizyn sich bei den Gesprächen mit Vorgesetzten in ein Stück Zucker verwandelte und zu Essig werde, wenn sich an ihn ein Untergebener wandte; daß er nach Art aller kleinlichen Menschen gegen alle Beamten eingenommen sei, die an Feiertagen ihm nicht ihre Glückwünsche darbrachten, und an jenen Rache nehme, die ihre Namen nicht auf die beim Portier ausliegenden Gratulationslisten eintrugen; infolgedessen empfand er gegen ihn eine nervöse Abneigung. Ein böser Geist versuchte ihn, diesem Fjodor Fjodorowitsch eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit besonderem Genuß suchte er nach einer Gelegenheit dazu, und er fand sie auch schließlich. Einmal hatte er mit ihm eine so heftige Auseinandersetzung, daß an ihn die Aufforderung erging, entweder Ljenizyn um Verzeihung zu bitten oder seinen Abschied zu nehmen. Er nahm seinen Abschied. Der Onkel, der wirkliche Staatsrat, kam zu ihm ganz erschrocken ins Haus und flehte ihn an: »Um Christi willen, Andrej Iwanowitsch! Was machst du für Sachen? Wie kann nur ein Mensch eine so glücklich angefangene Karriere aufgeben, bloß weil er einen Vorgesetzten bekommen hat, der ihm nicht paßt? Was fällt dir ein? Wenn man darauf sehen wollte, so bliebe bald niemand im Amte. Komme zu dir, gib deinen Stolz und Ehrgeiz auf, fahre zu ihm hin und setze dich mit ihm auseinander!«
»Es handelt sich nicht darum, Onkelchen«, sagte der Neffe. »Es würde mir nicht schwer fallen, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich bin schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich habe mit ihm nicht so reden dürfen. Die Sache ist aber die. Mir steht ein anderer Dienst bevor: ich habe dreihundert Leibeigene, das Gut ist vernachlässigt, der Verwalter ein Dummkopf. Der Staat verliert nicht viel, wenn auf meinem Platze in der Kanzlei sich jemand anders hinsetzt, um die Papiere abzuschreiben; es ist aber für den Staat ein großer Verlust, wenn dreihundert Menschen keine Steuern entrichten. Ich bin – was glauben Sie wohl? – ein Gutsbesitzer, welcher ... der Dienst ... Wenn ich für die Erhaltung, Schonung und die Besserung der Lage der mir anvertrauten Menschen Sorge tragen und dem Staate dreihundert ordentliche, nüchterne, arbeitsame Untertanen liefere – ist dann mein Dienst weniger wert als der eines Abteilungsvorstandes Ljenizyn?«
Der wirkliche Staatsrat riß vor Erstaunen den Mund auf. Einen solchen Redestrom hatte er nicht erwartet. Nach kurzer Überlegung begann er folgendermaßen: »Aber immerhin ... trotzdem ... wie kann man sich nur auf dem Lande begraben? Was für eine Gemeinschaft kann zwischen dir und den Bauern bestehen? ... Hier begegnet man auf der Straße mal einem General oder einem Fürsten. Du kommst auch selbst an einem ... vorbei ... nun, die Gasbeleuchtung, das industrielle Europa ... dort aber ist alles, was du siehst, entweder ein Bauer oder ein Bauernweib. Für welches Vergehen hast du dich zum lebenslänglichen Umgang mit dem rohen Volke verurteilt?«
Alle diese überzeugenden Vorstellungen des Onkels machten auf den Neffen keinen Eindruck. Das flache Land erschien ihm als eine angenehme Zufluchtsstätte, als ein Nährboden für Träume und Gedanken, als das einzige Feld einer nutzbringenden Tätigkeit. Schon hatte er sich die allerneuesten Werke über Landwirtschaft angeschafft. Mit einem Worte, etwa zwei Wochen nach diesem Gespräch befand er sich schon in der Nähe der Gegend, wo er seine Kindheit verbracht hatte, in der Nähe jenes herrlichen Winkels, den die Gäste und Besucher gar nicht genug bewundern konnten. Ein neues Gefühl war in ihm erwacht. In seiner Seele regten sich die alten Eindrücke, die so lange nicht zum Ausbruch kommen konnten. Viele Plätze hatte er schon vergessen, und er betrachtete so neugierig wie ein Neuling die herrlichen Bilder, die sich seinem Auge boten. Und plötzlich begann sein Herz, er wußte selbst nicht warum, heftig zu pochen. Als die Straße als enge Schlucht ins Dickicht des großen verwilderten Waldes drang, als er oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichen, die drei Männer umfassen konnten, untermischt mit Fichten, Ulmen und Schwarzpappeln sah, die die Wipfel der Pappeln überragten; als man ihm auf die Frage: »Wem gehört dieser Wald?« antwortete: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann den Wald verließ und zwischen Wiesen, an Espengehölz, jungen und alten Weiden vorbei, angesichts der fernen Hügelzüge vorüberzog und auf zwei Brücken über den gleichen Fluß führte, der ihr bald zur Rechten und bald zur Linken lag, und als er auf die Frage: »Wem gehören diese Wiesen?« die Antwort bekam: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann bergauf ging und über eine flache Hochebene weiterzog, einerseits an den noch nicht gemähten Korn-, Weizen- und Gerstenfeldern, andererseits an allen den Plätzen vorbei, an denen er schon einmal vorbeigefahren war und die nun perspektivisch verkürzt dalagen; als die Straße, allmählich dunkel werdend, in den Schatten der mächtigen, weitverzweigten Bäume tauchte, die auf dem grünen Teppich bis dicht vor das Dorf verstreut dalagen, und als die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhäuser und die roten Dächer der steinernen Gutsgebäude auftauchten und die goldenen Kirchenkuppeln erglänzten; als das glühend pochende Herz, auch ohne zu fragen, wußte, wo es sich nun befand – da kamen endlich die Gefühle, die sich in ihm während der ganzen Fahrt angesammelt hatten, in den lauten Worten zum Ausdruck: »War ich denn nicht ein Narr bisher? Das Schicksal hatte mich zum Besitzer des irdischen Paradieses gemacht, und ich verdammte mich zum Sklavendienst, der im Beschmieren toter Papiere bestand! Nachdem ich eine ordentliche Erziehung genossen, mir eine Bildung angeeignet und einen großen Vorrat von Kenntnissen angesammelt hatte, die man zur Verbreitung des Guten unter den Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Bezirks, zur Erfüllung der verschiedenartigsten Pflichten des Gutsbesitzers brauchen kann, welcher zugleich Richter, Verwalter und Hüter der Ordnung ist – vertraute ich diesen Posten einem unwissenden Verwalter an und zog es vor, Angelegenheiten fremder Leute zu besorgen, die ich nie gesehen habe, deren Charaktere und Eigenschaften ich nicht kenne – habe der echten Verwaltung eine papierne, phantastische Verwaltung von Provinzen vorgezogen, die Tausende von Werst entfernt sind, die ich nie mit dem Fuße betreten habe und wo ich nur eine Menge von Unsinn und Dummheiten anstellen kann!«