Er war froh darüber und faßte den Plan zu einem großen Werk über Rußland. Wie er sich diesen Plan überlegte, hat der Leser schon gesehen. In seinem Leben stellte sich eine merkwürdige unordentliche Ordnung ein. Man kann jedoch nicht sagen, daß es keine Augenblicke gegeben hätte, wo er nicht gleichsam aus dem Schlafe erwachte. Wenn die Post ihm Zeitungen und Zeitschriften brachte und er irgendwo den ihm bekannten Namen eines ehemaligen Freundes las, der es im Staatsdienste zu einer ansehnlichen Stellung gebracht hatte oder nach Kräften den Wissenschaften oder der Sache der Menschheit diente, beschlich ein stummer, stiller Schmerz seine Seele, und ihm entrang sich eine traurige, stumme Klage über seine Tatenlosigkeit. In solchen Augenblicken erschien ihm sein Leben widerwärtig und häßlich. Mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erstand vor ihm die entschwundene Schulzeit, und er sah vor sich Alexander Petrowitsch ... Ströme von Tränen stürzten ihm aus den Augen ...
Was bedeuteten diese Tränen? Deckte in ihnen seine krankende Seele das schmerzhafte Geheimnis ihrer Krankheit auf – daß der große Mensch, der im Begriffe war, sich in seinem Innern zu bilden, keine Zeit gehabt hatte, sich zu formen und zu erstarken; daß er, der nicht von Kind auf im Kampfe mit Mißerfolgen erprobt war, noch nicht jenen höheren Zustand erreicht hatte, wo der Mensch gerade durch Hindernisse und Mißerfolge wächst und erstarkt; daß sein reicher Vorrat an großen Gefühlen, der gleich glühendem Metall geschmolzen war, nicht die letzte Härtung bekommen hatte; daß ihm viel zu früh sein ungewöhnlicher Lehrer gestorben war und daß er nun niemand auf der ganzen Welt hatte, der die Kraft hätte, seinen durch ewiges Schwanken erschütterten und jeder Elastizität baren, kraftlosen Willen zu festigen, der seiner Seele anspornend das ermunternde Wort: »Vorwärts!« zuriefe, nach dem jeder Russe von jedem Rang und Stande, auf jeder Lebensstufe dürstet?
Wo ist der Mensch, der uns in der Muttersprache unserer russischen Seele das allmächtige Wort: »Vorwärts!« zuzurufen vermöchte? Der uns, mit allen Kräften und Eigenschaften und der ganzen Tiefe unserer Natur vertraut, mit einem einzigen Zauberwink zu einem höheren Leben lenken könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der dankbare russische Mensch bezahlen! Doch die Jahrhunderte vergehen, schmachvolle Faulheit und die sinnlose Geschäftigkeit eines unreifen Jünglings umfangen . . . und Gott schickt uns nicht den Mann, der dieses Wort zu sprechen vermöchte!
Ein Umstand hätte ihn beinahe geweckt, beinahe hätte sich sein Charakter von Grund auf verändert: er erlebte etwas wie Liebe. Doch die Sache führte zu nichts. In seiner Nachbarschaft, zehn Werst von seinem Gute entfernt, lebte ein General, der, wie wir es schon hörten, nicht allzu günstig über Tjentjetnikow sprach. Der General lebte wie ein richtiger Generaclass="underline" hielt ein offenes Haus, liebte es, daß seine Nachbarn ihn besuchten, um ihm ihre Achtung zu bezeugen, erwiderte aber ihre Visiten nicht, sprach mit heiserer Stimme, las Bücher und hatte eine Tochter, ein ungewöhnliches, sonderbares Wesen. Sie war so lebendig wie das Leben selbst.
Ihr Name war Ulinjka. Sie hatte eine recht merkwürdige Erziehung genossen: durch eine englische Gouvernante, die kein Wort Russisch sprach. Ihre Mutter hatte sie sehr früh verloren. Der Vater hatte für sie niemals Zeit. Da er übrigens seine Tochter wahnsinnig liebte, hätte er sie nur verziehen können. Da sie in voller Freiheit herangewachsen war, war alles an ihr trotzig und eigensinnig. Wenn jemand gesehen hätte, wie bei einem plötzlichen Zornausbruch strenge Falten ihre herrliche Stirn durchfurchten und wie hitzig sie mit ihrem Vater stritt, hätte er glauben müssen, sie sei das launischste Geschöpf. Ihr Zorn entbrannte aber nur dann, wenn sie von irgendeiner Ungerechtigkeit oder einer bösen Tat hörte, ganz gleich, an wem sie verübt worden war. Niemals stritt sie aber um ihrer selbst willen, niemals suchte sie sich selbst zu rechtfertigen. Ihr Zorn würde sofort verpuffen, wenn sie den, gegen den sie zürnte, im Unglück sähe. Auf jede Bitte um ein Almosen war sie bereit, wem es auch sei, ihren Beutel mit seinem ganzen Inhalt zuzuwerfen, ohne erst irgendwelche Überlegungen oder Berechnungen anzustellen. Es war etwas Ungestümes an ihr. Wenn sie sprach, so schien sie mit ihrem ganzen Wesen ihren Gedanken nachzueilen, – mit ihrem Gesichtsausdruck, mit ihrem Tonfall, mit ihren Handbewegungen; selbst die Falten ihres Kleides strebten gleichsam in dieselbe Richtung, und man hatte den Eindruck, daß sie gleich selbst ihren eigenen Worten nachfliegen würde. Nichts blieb an ihr verborgen. Vor keinem Menschen scheute sie ihre Gedanken zu äußern, und keine Gewalt vermochte sie zum Schweigen zu bringen, wenn sie sprechen wollte. Ihr bezaubernder, nur ihr allein eigentümlicher Gang war dermaßen frei und sicher, daß ihr jeder unwillkürlich den Weg freigab. In ihrer Gegenwart fühlte sich jeder böse Mensch verlegen und mußte verstummen; der keckste und im Gespräch ungezwungenste Mensch fand in ihrer Gegenwart keine Worte und verlor jede Sicherheit; ein Schüchterner konnte aber mit ihr so lebhaft plaudern, wie er in seinem ganzen Leben noch mit niemand geplaudert hatte, und hatte gleich zu Beginn des Gesprächs den Eindruck, als sei er mit ihr schon einmal irgendwo bekannt gewesen, als hätte er ihre Züge schon einmal gesehen, als hätte er dies in den Tagen der schon vergessenen Kindheit erlebt, in seinem Vaterhause, an einem lustigen Abend, unter freudigen Kinderspielen; und nach einem solchen Gespräch erschien ihm lange noch das vernünftige Alter des Menschen so furchtbar langweilig.
Dasselbe erlebte mit ihr auch Tjentjetnikow. Ein unaussprechliches neues Gefühl drang in seine Seele. Sein langweiliges Leben wurde für einen Augenblick erhellt.
Der General nahm Tjentjetnikow anfangs recht gut und freundlich auf; intim wurden sie jedoch nicht. Ihre Gespräche endeten immer mit einem Streit und einem unangenehmen Gefühl auf beiden Seiten, denn der General liebte keinen Widerspruch; und Tjentjetnikow war auch seinerseits recht empfindlich. Der Tochter zuliebe vergab er natürlich dem Vater vieles, und der Friede zwischen ihnen blieb erhalten, bis einmal der General Besuch von zwei Verwandten erhielt: der Gräfin Bordyrjowa und der Fürstin Jusjakina, zwei Hofdamen des früheren Hofes, die aber noch einige Verbindungen behalten hatten, aus welchem Grunde der General sie auf eine recht gemeine Weise umschmeichelte. Gleich nach ihrer Ankunft kam es Tjentjetnikow vor, daß der General etwas kühler gegen ihn sei, ihn überhaupt nicht beachte oder wie ein stummes Geschöpf behandle; er apostrophierte ihn etwas wegwerfend mit: »Mein Lieber«, »Hör’ mal, Bruder«, und selbst mit »du«. Da riß seine Geduld. Er biß jedoch die Zähne zusammen und hatte noch so viel Geistesgegenwart, um mit einer ungemein höflichen und sanften Stimme zu sagen, während auf seinem Gesicht Flecken hervortraten und alles in ihm kochte: »Ich danke Ihnen, General, für Ihre Zuneigung. Mit dem Worte ›du‹ fordern Sie mich zu einer intimeren Freundschaft auf und verpflichten mich, auch zu Ihnen ›du‹ zu sagen. Doch der Unterschied im Alter steht einem solchen familiären Verkehr zwischen uns im Wege.« Der General fühlte sich verlegen. Seine Gedanken sammelnd und nach passenden Worten suchend, sagte er, daß er das Wort »du« nicht in diesem Sinne gebraucht habe und daß es einem alten Manne zuweilen erlaubt sei, einen jüngeren mit »du« anzureden (von seinem Rang sprach er aber kein Wort).