Sie ging zur Tür, zuversichtlich, dass Egwene ihr folgen würde, und Egwene gehorchte. Ein körperlicher Angriff auf die Oberin würde ihr nur einen weiteren Eintrag in das Buch einbringen. Spaltwurzel. Nun, sie würde einen Weg finden, wie sie das umgehen konnte. Und wenn nicht… Sie weigerte sich, darüber nachzudenken.
Katerine und Barasine waren gelinde gesagt überrascht, als sie von Elaidas Plänen für Egwene erfuhren, und wenig erfreut, als sie hörten, dass sie sie beobachten und während des Schlafens abschirmen sollten, auch wenn ihnen Silviana versicherte, sie nach ein paar Stunden von anderen Schwestern ablösen zu lassen.
»Warum wir beide?«, wollte Katerine wissen, was ihr einen trockenen Blick von Barasine einbrachte. Wenn man nur eine schickte, dann sicherlich nicht Katerine, die eine höhere Position einnahm.
»Erstens, weil ich es sage.« Silviana wartete, bis die beiden Roten zustimmend nickten. Sie taten es mit offensichtlichem Zögern, das aber nicht lange genug dauerte, um sie wirklich warten zu lassen. Sie hatte ihre Stola nicht angelegt, bevor sie den Korridor betrat, und auf seltsame Weise schien sie diejenige zu sein, die nicht hierher passte. »Und zweitens, weil ich glaube, dass dieses Kind durchtrieben ist. Ich will, dass sie ständig aufmerksam überwacht wird, ob sie nun schläft oder wacht. Wer von euch hat ihren Ring?«
Nach einem Moment zog Barasine den goldenen Ring aus der Gürteltasche und murmelte: »Ich wollte ihn nur als Erinnerungsstück behalten. Dass man die Rebellen zur Räson gebracht hat. Sie sind nun erledigt, ganz bestimmt.« Ein Erinnerungsstück? Das war Diebstahl, da gab es keinen Zweifel!
Egwene griff nach dem Ring, aber Silviana war schneller, und der Ring wanderte in ihre Gürteltasche. »Ich werde ihn verwahren, bis Ihr wieder das Recht habt, ihn zu tragen, Kind. Jetzt bringt sie ins Quartier der Novizinnen. Mittlerweile müsste ein Zimmer vorbereitet sein.«
Katerine übernahm die Abschirmung, und Barasine griff nach Egwenes Arm, aber Egwene streckte eine Hand nach Silviana aus. »Wartet. Da gibt es etwas, das ich Euch sagen muss.« Sie hatte sich damit gequält. Das Risiko war groß, weitaus mehr zu enthüllen, als sie wollte. Aber sie musste es tun. »Ich habe das Talent des Träumens. Ich habe gelernt, die wahren Träume zu erkennen und ein paar davon zu interpretieren. Ich habe von einer Glaslampe geträumt, in der eine weiße Flamme brannte. Zwei Raben kamen aus dem Nebel geflogen, stießen gegen die Lampe und flogen weiter. Die Lampe wackelte, versprühte brennende Öltropfen. Einige davon verbrannten in der Luft, andere landeten überall, und die Lampe wackelte weiter, kurz vor dem Umkippen. Es bedeutet, dass die Seanchaner die Weiße Burg angreifen und großen Schaden anrichten werden.«
Barasine schniefte. Katerine stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Eine Träumerin«, sagte Silviana tonlos. »Gibt es jemanden, der Eure Behauptung bestätigen kann? Und wenn es ihn gibt, wie könnt Ihr sicher sein, dass mit dem Traum die Seanchaner gemeint sind? Meiner Meinung nach würden Raben auf den Schatten hindeuten.«
»Ich bin eine Träumerin, und wenn eine Träumerin etwas weiß, dann weiß sie es. Nicht der Schatten. Die Seanchaner. Und wer weiß, was ich kann…?« Egwene zuckte mit den Schultern. »Die Einzige, zu der Ihr Zugang habt, ist Leane Sharif, die unten in den Zellen festgehalten wird.« Sie sah keine Möglichkeit, wie sie die Weisen Frauen ins Spiel bringen sollte, nicht, ohne einfach zu viel zu enthüllen.
»Diese Frau ist eine Wilde und nicht…«, setzte Katerine wütend an, aber ihr Mund schloss sich schnappend, als Silviana die Hand hob.
Die Oberin der Novizinnen musterte Egwene sorgfältig, das Gesicht noch immer eine nicht zu deutende Maske der Ruhe. »Ihr glaubt wirklich das, was Ihr da sagt«, bemerkte sie schließlich. »Ich hoffe, Eure Träume werden nicht so viele Probleme verursachen wie die Vorhersagen der jungen Nicola. Falls Ihr wirklich Träumen könnt. Nun, ich werde Eure Warnung weitergeben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie uns die Seanchaner hier in Tar Valon angreifen sollten, aber Wachsamkeit hat noch nie geschadet. Und ich werde die Frau befragen, die man unten festhält. Sorgfältig. Und wenn sie Eure Geschichte nicht bestätigt, wird Euer morgendlicher Besuch noch denkwürdiger ausfallen.« Sie gab Katerine ein Zeichen. »Bringt sie weg, bevor sie mir noch ein Bröckchen hinwirft und mich davon abhält, in dieser Nacht wenigstens etwas Schlaf zu finden.«
Diesmal murmelte Katerine genauso viel wie Barasine. Aber beide warteten, bis sie außer Silvianas Hörweite waren. Diese Frau würde eine außergewöhnliche Gegnerin sein. Egwene hoffte, dass den Schmerz zu umarmen so gut funktionierte, wie es die Weisen Frauen behauptet hatten. Sonst… Es war besser, über das »Sonst« nicht weiter nachzudenken.
Eine dünne, grauhaarige Dienerin wies ihnen die Richtung zu dem Raum, den sie gerade vorbereitet hatte, und eilte los, nachdem sie vor den beiden Roten schnell einen Knicks gemacht hatte. Für Egwene hatte sie keinen Blick übrig. Was bedeutete ihr schon eine weitere Novizin? Egwene biss die Zähne zusammen. Sie würde dafür sorgen müssen, dass die Leute sie nicht bloß als eine weitere Novizin betrachteten.
»Seht Euch ihr Gesicht an«, sagte Barasine. »Ich glaube, sie fängt endlich an zu begreifen.«
»Ich bin, wer ich bin«, erwiderte Egwene ruhig. Barasine stieß sie auf die Stufen zu, die sich in der hohlen Säule einer Galerie befand und von dem abnehmenden Mond beleuchtet wurde. Ein Luftzug wehte, der einzige Laut. Alles erschien so friedlich. Unter keiner Tür drang Lichtschein durch. Die Novizinnen würden mittlerweile schlafen, ausgenommen jene, die späte Pflichten zu erledigen hatten. Für sie war es friedlich. Aber nicht für Egwene.
Der winzige, fensterlose Raum hätte beinahe derselbe sein können, den sie bei ihrem ersten Aufenthalt in der Weißen Burg bewohnt hatte, mit seinem schmalen Bett an der Wand und dem kleinen Feuer, das in dem kleinen Ziegelkamin brannte. Die Lampe auf dem kleinen Tisch war entzündet, aber sie erhellte kaum mehr als die Tischplatte, und das Öl musste verdorben sein, denn es verbreitete einen schwachen, ranzigen Gestank. Ein Waschständer vervollständigte die Möblierung, abgesehen von dem dreibeinigen Hocker, auf dem sich Katerine augenblicklich niederließ und wie auf einem Thron die Röcke richtete. Barasine wurde klar, dass es für sie keinen Sitzplatz gab, also verschränkte sie die Arme unter der Brust und sah Egwene finster an.
Mit drei Frauen war es in dem Zimmer ziemlich eng, aber Egwene tat so, als würde es die anderen beiden nicht geben, als sie sich zum Schlafen bereitmachte und Umhang, Gürtel und Kleid an drei der Haken an einer der weißen Wände aufhängte. Sie bat nicht um Hilfe bei ihren Knöpfen. Als sie ihre ordentlich zusammengerollten Strümpfe auf den Schuhen ablegte, hatte es sich Barasine im Schneidersitz auf dem Boden bequem gemacht und sich in ein kleines Buch vertieft, das sie in ihrer Gürteltasche verstaut gehabt haben musste. Katerine ließ Egwene keinen Augenblick lang aus den Augen, als erwartete sie, dass sie einen Fluchtversuch zur Tür versuchen würde.
Egwene kroch in ihrem Unterhemd unter die dünne Wolldecke, bettete den Kopf auf das kleine Kopfkissen — kein mit Gänsedaunen gefülltes Kissen, so viel stand fest! — und vollzog die Übungen, die sie einschlafen lassen würden, entspannte einen Teil ihres Körpers nach dem anderen. Sie hatte das schon so oft gemacht, dass es den Anschein hatte, sie würde einschlafen, kaum dass sie damit begonnen hatte…
… und sie schwebte körperlos in einer Finsternis, die sich zwischen der wachenden Welt und Tel'aran'rhiod befand, der schmale Spalt zwischen dem Traum und der Realität, eine gewaltige Leere, gefüllt mit unzähligen funkelnden Lichtpunkten, die Träume sämtlicher Schläfer auf der Welt. Sie reichten so weit man sehen konnte an diesem Ort, wo es kein oben oder unten gab, schwebten um sie herum, verloschen, sobald ein Traum endete, flammten auf, sobald ein neuer begann. Sie konnte ein paar von ihnen auf Anhieb erkennen, dem Träumer einen Namen zuordnen, aber sie fand nicht denjenigen, den sie brauchte.