Auch Nachtlilie atmete schwer, wie ihr bewusst wurde. Eigentlich keuchte sie sogar. Siuan verspürte kein Mitleid. Das blöde Tier hatte versucht, sie umzubringen, so wie es bei Pferden nun einmal üblich war! Sich zu erholen brauchte einen Moment, aber dann zog sie den Umhang zurecht, nahm die Zügel auf und ritt in gemächlichem Schritt an den Wagen und langen Reihen aus Pferden vorbei. Zwischen den Pferden bewegten sich schattenhafte Männer, zweifellos Pferdeknechte, die sich um die sichtlich unruhigen Tiere kümmerten. Die Stute schien jetzt folgsamer zu sein. Wirklich, das war gar nicht so übel.
Als sie das eigentliche Lager betrat, zögerte sie nur kurz, bevor sie Saidar umarmte. Es war seltsam, ein Lager voller Aes Sedai als gefährlich zu betrachten, und doch waren hier zwei Schwestern ermordet worden. Bedachte man die Umstände ihres Todes, erschien es unwahrscheinlich, dass das Halten der Macht ausreichen würde, um sie zu retten, sollte sie das nächste Opfer sein, aber Saidar vermittelte zumindest die Illusion von Sicherheit. So lange, bis sie sich erinnerte, dass es nur eine Illusion war. Einen Augenblick später webte sie die Stränge aus Geist, die ihre Fähigkeiten und das Leuchten der Macht verbergen würden. Es bestand schließlich keine Notwendigkeit, sie anzukündigen.
Selbst zu dieser Stunde, da der Mond tief im Westen stand, waren ein paar Leute auf den Gehwegen unterwegs, Diener und Dienerinnen, die eilig späte Aufgaben erledigten. Vielleicht wäre frühe die zutreffendere Bezeichnung. Die meisten Zelte, die es in beinahe jeder vorstellbaren Größe und Form gab, waren dunkel, aber in einigen der größeren funkelte das Licht von Lampen oder Kerzen. Unter diesen Umständen keine große Überraschung. Um jedes erleuchtete Zelt standen Männer oder hatten sich davor versammelt. Behüten Niemand sonst konnte so still stehen, dass er mit der Nacht zu verschmelzen schien, vor allem nicht in einer so kalten Nacht. Erfüllt von der Macht konnte sie noch andere ausmachen, ihre Behüterumhänge ließen sie in den Schatten verschwinden. Keine Überraschung, dachte man an die ermordeten Schwestern und das, was ihr Bund mit den Aes Sedai an sie übertragen musste. Vermutlich war mehr als nur eine Schwester bereit, sich die Haare auszureißen. Oder jemand anderem. Sie bemerkten sie, folgten ihrem Weg, während sie langsam suchend die gefrorenen Furchen entlangritt.
Der Saal musste informiert werden, natürlich, aber andere mussten es vorher wissen. Ihrer Einschätzung nach waren sie eher dazu bereit, etwas… Überstürztes zu tun. Und möglicherweise Verheerendes. Eide hielten sie, aber erzwungene Eide, an eine Frau, die sie nun tot wähnten. Für den Saal, den größten Teil des Saals, galt, dass sie ihre Flagge an den Mast genagelt hatten, indem sie einen Sitz annahmen. Keine von ihnen würde springen, bevor sie ganz genau wussten, wo sie landen würden.
Sheriams Zelt war zu klein für das, von dem Siuan sicher war, es vorzufinden, außerdem war es dunkel, wie sie im Vorbeigehen bemerkte. Sie bezweifelte aber sehr, dass die Frau drinnen schlief. Morvrins Unterkunft, groß genug, um Schlafplatz für vier zu bieten, hätte es getan, wäre Platz unter all den Büchern gewesen, die die Braune auf dem Marsch geschafft hatte anzusammeln, aber auch das war dunkel. Ihr dritter Versuch erwies sich jedoch als erfolgreich, und sie zügelte Nachtlilie ein Stück davor.
Myrelle hatte zwei Spitzzelte im Lager, eins für sich und eins für ihre drei Behüterdie drei, die sie in der Öffentlichkeit anzuerkennen wagte —, und ihr Zelt erstrahlte in aller Helligkeit, und die Schatten von Frauen huschten über die geflickten Wände. Drei sehr unterschiedliche Männer standen auf dem Gehweg vor dem Zelt — ihre Reglosigkeit kennzeichnete sie als Behüter-, aber Siuan ignorierte sie für den Augenblick. Worüber sie sich drinnen wohl gerade unterhielten? Überzeugt, dass es eine sinnlose Bemühung war, webte sie Luft mit einer Spur Feuer; ihr Gewebe berührte das Zelt und traf eine Barriere gegen Lauschangriffe. Natürlich nach innen gerichtet und damit für sie unsichtbar. Sie hatte den Versuch nur auf die Möglichkeit hin unternommen, dass sie sorglos waren. Bei den Geheimnissen, die sie verbergen mussten, kaum wahrscheinlich. Die Schatten hinter den Wänden waren jetzt ganz still. Also wussten sie, dass es jemand versucht hatte. Sie ritt den Rest des Weges mit der Überlegung beschäftigt, worüber sie sich wohl unterhalten hatten.
Als sie absaß — nun, immerhin schaffte sie es, einen halben Sturz in etwas zu verwandeln, das einem Sprung ähnelte —, trat einer der Behüter, Sheriams Arinvar, ein schlanker Cairhiener nur unwesentlich größer als sie, nach vorn, um mit einer kleinen Verbeugung nach den Zügeln zu greifen, aber sie winkte ihn fort. Sie ließ Saidar los und band die Stute mit einem Knoten an einer der Stangen des Gehweges an, der ein großes Boot bei heftigem Wind und einer starken Strömung gehalten hätte. Keine der lockeren Schlaufen, die andere benutzten. Sie mochte das Reiten verabscheuen, aber wenn sie ein Pferd festband, dann wollte sie, dass es bei ihrer Rückkehr noch da war. Arinvars Brauen hoben sich, als er ihr bei dem Knoten zusah, aber er würde auch nicht für das verdammte Pferd bezahlen müssen, falls es sich losriss und verloren ging.
Nur einer der anderen beiden Behüter gehörte Myrelle, Avar Hachami, ein Saldaeaner mit einer Nase wie ein Adlerschnabel und einem dichten, mit Grau durchsetztem Schnurrbart. Nach einem kurzen Blick auf sie und einem leichten Nicken widmete er sich wieder dem Studium der Nacht. Morvrins Jori, klein und kahl und fast so breit wie hoch, ignorierte sie. Er musterte die Dunkelheit, und seine Hand ruhte locker auf dem langen Schwertgriff. Angeblich gehörte er zu den besten Schwertkämpfern der Behüter. Wo waren die anderen? Natürlich konnte sie nicht danach fragen, genau wie sich die Frage verbot, wer alles im Zelt war. Die Männer wären bis ins Mark schockiert gewesen. Keiner versuchte, sie vom Eintritt abzuhalten. Wenigstens waren die Verhältnisse noch nicht so schlimm geworden.
Im Zeltinneren verbreiteten zwei Kohlenbecken Rosenduft und machten die Luft verglichen mit der Nacht beinahe schon mollig warm. Sie entdeckte fast jeden, den sie gehofft hatte zu treffen, und alle schauten, wer da eintrat.
Myrelle saß in einem seidenen, mit roten und gelben Blumen verzierten Morgenmantel auf einem stabilen Stuhl, die Arme unter der Brust verschränkt; auf ihren olivefarbenen Zügen zeichnete sich eine Gelassenheit ab, die so perfekt war, dass sie nur die Erregung in ihren dunklen Augen hervorhob. Das Licht der Macht hüllte sie ein. Schließlich war es ihr Zelt; sie würde diejenige sein, die hier ein Schutzgewebe webte. Sheriam saß kerzengerade an einem Ende von Myrelles Pritsche und tat so, als würde sie ihre blaugeschlitzten Röcke richten; ihr Gesichtsausdruck war so feurig wie ihr Haar, und er wurde beim Anblick Siuans noch hitziger. Sie trug nicht die Behüterinnenstola, ein schlechtes Zeichen.
»Ich hätte mir denken können, dass Ihr es seid«, sagte Carlinya kalt mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Sie war noch nie eine warmherzige Frau gewesen, aber jetzt rahmten die Locken, die kurz vor ihren Schultern endeten, ein Gesicht ein, das aus Eis in der blassen Farbe ihres Kleides gemeißelt zu sein schien. »Ich werde nicht zulassen, dass Ihr meine privaten Unterhaltungen belauscht, Siuan.« O ja, sie glaubten, dass alles zu Ende war.
Morvrin mit ihrem runden Gesicht erschien trotz der Falten in ihrem braunen Wollrock zur Abwechslung mal nicht im Mindesten abwesend oder schläfrig; sie ging um den kleinen Tisch herum, auf dem eine hohe Silberkanne und fünf Silbertassen auf einem lackierten Tablett standen. Anscheinend hatte niemand Lust auf Tee; die Tassen waren alle unbenutzt. Die langsam ergrauende Schwester griff in ihre Gürteltasche und drückte Siuan einen geschnitzten Hornkamm in die Hand. »Ihr seid völlig zerzaust, Frau. Bringt Euer Haar in Ordnung, bevor irgendein Lümmel Euch für eine Schankdirne statt für eine Aes Sedai hält und Euch auf sein Knie ziehen will.«