Ohne zu zögern, wandte sich Siuan dem Tisch zu und nahm die Kanne, als würde sie sie vorbereiten. Normalerweise wäre das in dieser Gesellschaft ihre Rolle gewesen; Tee einzuschenken und zu sprechen, wenn man sie um ihre Meinung bat. Wenn sie den Mund hielt, würde Lelaine vielleicht das erledigen, weswegen sie gekommen war, und schnell wieder gehen, ohne ihr einen zweiten Blick zu widmen. Das tat die Frau sowieso selten.
»Ich dachte mir, dass es sich bei dem Pferd draußen um das gleiche handelt, auf dem ich Euch habe ankommen gesehen, Siuan.« Lelaine betrachtete die anderen Schwestern, die nun alle eine ausdruckslose Miene aufgesetzt hatten. »Störe ich?«
»Siuan sagt, Egwene lebt«, bemerkte Sheriam, als würde sie auf dem Dock über den Preis von Deltabarschen plaudern.
»Und Leane auch. Egwene hat zu Siuan im Traum gesprochen. Sie verweigert jeden Rettungsversuch.« Myrelle warf ihr einen unergründlichen Seitenblick zu, aber Siuan hätte ihr eine Ohrfeige geben können! Vermutlich wäre Lelaine die Nächste gewesen, die sie aufgesucht hätte, aber sie hätte es ihr auf ihre Weise gesagt und wäre nicht wie auf dem Fischmarkt damit herausgeplatzt. In letzter Zeit war Sheriam so leichtsinnig wie eine Novizin geworden!
Lelaine schürzte die Lippen und sah Siuan durchdringend an. »Hat sie das? Ihr solltet wirklich Eure Stola tragen, Sheriam. Ihr seid die Behüterin. Siuan, begleitet Ihr mich? Es ist viel zu lange her, dass wir uns unter vier Augen unterhalten haben.« Mit einer Hand hielt sie die Zeltplane zurück und richtete den durchdringenden Blick auf die anderen Schwestern. Sheriam errötete, wie es nur eine Rothaarige tun konnte, sie wurde knallrot und fummelte die schmale blaue Stola aus der Gürteltasche, um sie sich um die Schultern zu legen, aber Myrelle und Carlinya erwiderten Lelaines Musterung ungerührt. Morvrin hatte angefangen, mit dem Finger gegen das runde Kinn zu tippen, als wäre sie sich der anderen nicht bewusst. Möglicherweise stimmte das auch. Morvrin war so.
Waren Egwenes Befehle zu ihnen durchgedrungen? Siuan blieb nicht mal die Gelegenheit für einen energischen Blick, während sie die Kanne abstellte. Ein Vorschlag von einer Schwester von Lelaines Stellung — ob sie nun Sitzende war oder nicht — kam für jemanden von Siuans Rang einem Befehl gleich. Sie hob Umhang und Röcke an und ging hinaus, dankte Lelaine murmelnd, dass sie ihr die Plane aufhielt. Beim Licht, sie hoffte, dass diese Närrinnen ihr auch zugehört hatten.
Draußen standen jetzt vier Behüter, aber einer von ihnen war Lelaines Burin, ein kleiner kupferhäutiger Domani in einem Behüterumhang, der den größten Teil von ihm nicht da zu sein scheinen ließ, und Avar war von einem anderen von Myrelles Männern ersetzt worden, Nuhel Dromand, einem großen, beleibten Mann mit einem Illianerbart, der seine Oberlippe frei ließ. Er stand so still da, dass man ihn für eine Statue hätte halten können, wären da vor seiner Nase nicht diese winzigen Nebelschwaden gewesen. Arinvar verbeugte sich vor Lelaine, eine schnelle Höflichkeit, wenn auch formell. Nuhel und Jori ließen in ihrer Wachsamkeit nicht nach. Burin auch nicht, was das anging.
Der Knoten, der Nachtlilie gehalten hatte, brauchte genauso lang, um wieder gelöst zu werden, wie sein Knüpfen gedauert hatte, aber Lelaine wartete geduldig, bis sich Siuan mit den Zügeln in der Hand aufrichtete, dann setzte sie sich mit langsamen Schritten auf dem Gehweg vorbei an dunklen Zelten in Bewegung. Mondschatten verbargen ihr Gesicht. Sie verzichtete darauf, die Macht zu umarmen, also konnte Siuan es auch nicht tun. Gefolgt von Burin ging Siuan mit dem Pferd neben Lelaine her und schwieg. Es war Sache der Sitzenden anzufangen, und nicht nur, weil sie eine Sitzende war. Siuan kämpfte gegen den Drang an, den Kopf zu senken und so die Extra-Zentimeter zu verlieren, die sie der Frau voraushatte. Sie dachte nur noch selten an die Zeit, als sie Amyrlin gewesen war. Sie war wieder als Aes Sedai aufgenommen worden, und als Aes Sedai gehörte es dazu, instinktiv seine Nische unter den anderen Schwestern einzunehmen. Das verdammte Pferd knabberte an ihrer Hand, als würde es sich für ihr Tier halten, und sie wechselte die Zügel lange genug in die andere Hand, um sich die Finger am Umhang abzuwischen. Dreckiges sabberndes Biest. Lelaine sah sie von der Seite an, und sie fühlte, wie sich ihre Wangen röteten. Instinkt.
»Ihr habt seltsame Freunde, Siuan. Ich glaube, ein paar von ihnen waren dafür, Euch wegzuschicken, als Ihr in Salidar aufgetaucht seid. Sheriam könnte ich verstehen, auch wenn die Tatsache, dass sie so weit über Euch steht, bestimmt eine gewisse Peinlichkeit mit sich bringt. Das war auch der hauptsächliche Grund, warum ich Euch gemieden habe, um Peinlichkeiten zu vermeiden.«
Um ein Haar hätte Siuan sie erstaunt angestarrt. Das grenzte ja beinahe schon daran, über das zu sprechen, worüber niemals gesprochen wurde, eine Überschreitung, die sie von dieser Frau niemals erwartet hätte. Von ihr selbst, möglicherweise — sie hatte ihre Nische gefunden, aber sie war nun einmal, wer sie war-, aber niemals von Lelaine!
»Ich hoffe, wir beide können wieder Freundinnen werden, Siuan, obwohl ich verstehen kann, falls das unmöglich sein sollte. Dieses Treffen heute Nacht bestätigt, was Faolain mir gesagt hat.« Lelaine lachte leise und faltete die Hände in Taillenhöhe. »Oh, verzieht doch nicht so das Gesicht, Siuan. Sie hat Euch nicht verraten, jedenfalls nicht absichtlich. Sie hat eine Bemerkung zu viel gemacht, und ich entschied mich, sie zu bedrängen, und zwar sehr energisch. Nicht die Art und Weise, wie man eine andere Schwester behandeln sollte, andererseits ist sie wirklich nicht mehr als eine Aufgenommene, bis sie sich der Prüfung unterziehen und sie bestehen kann. Faolain wird eine gute Aes Sedai abgeben. Sie ist nur sehr zögernd mit allem rausgerückt. Nur Bruchstücke und ein paar Namen, aber zusammen mit Eurer Anwesenheit bei diesem Treffen glaube ich, dass ich mir ein ziemlich genaues Bild machen kann. Ich glaube, ich kann sie jetzt wieder freilassen. Sie wird mir kein zweites Mal nachspionieren. Ihr und Eure Freundinnen seid Egwene sehr treu ergeben, Siuan. Könnt Ihr mir gegenüber genauso treu sein?«
Darum also war Faolain anscheinend untergetaucht. Wie viele »Bruchstücke« hatte sie enthüllt, während sie »energisch bedrängt« worden war? Faolain wusste nicht alles, aber es war besser davon auszugehen, dass Lelaine es tat. Davon auszugehen, aber zugleich nichts zu enthüllen, solange sie selbst nicht unter Druck gesetzt wurde.
Siuan blieb abrupt stehen, holte tief Luft. Lelaine folgte ihrem Beispiel, wartete offensichtlich darauf, dass sie das Wort ergriff. Obwohl ihr Gesicht halb im Schatten lag, war das klar. Siuan musste sich dafür stählen, dieser Frau gegenüberzutreten. Einige Instinkte waren Aes Sedai in Fleisch und Blut übergegangen. »Ich bin Euch treu ergeben als Sitzende meiner Ajah, aber Egwene al'Vere ist der Amyrlin-Sitz.«
»Das ist sie.« Lelaines Ausdruck blieb gleich, soweit Siuan erkennen konnte. »Sie hat mit Euch in Euren Träumen gesprochen? Sagt mir, was Ihr über die Situation wisst, Siuan.« Siuan warf einen Blick über die Schulter auf den stämmigen Behüten »Ignoriert ihn«, sagte die Sitzende. »Ich habe schon seit zwanzig Jahren keine Geheimnisse mehr vor Burin.«
»In meinen Träumen«, gab Siuan zu. Sie beabsichtigte mit Sicherheit nicht zuzugeben, dass es in diesem Traum nur darum gegangen war, dass sie sich in Tel'aran'rhiod nach Salidar begab. Sie durfte diesen Ring nicht benutzen. Der Saal würde ihn ihr abnehmen, wenn er das erfuhr. Ruhig — zumindest nach außen hin — erzählte sie, was sie Myrelle und den anderen gesagt hatte, und mehr.
Aber nicht alles. Nicht, dass es mit Sicherheit Verrat gegeben hatte. Das hatte nur aus dem Saal kommen können. Abgesehen von den daran beteiligten Frauen hatte sonst niemand von dem Plan gewusst, die Häfen zu blockieren —, allerdings hatte derjenige, der dafür verantwortlich war, nicht wissen können, dass er Egwene verriet. Er hatte nur Elaida geholfen, was schon für sich genommen merkwürdig genug war. Warum sollte eine von ihnen Elaida helfen wollen? Von Anfang an hatte es Gerede über Elaidas geheime Anhängerinnen gegeben, aber sie hatte diese Möglichkeit schon vor langem wieder verworfen. Mit Sicherheit wollte jede Blaue Elaida inbrünstig stürzen, aber solange sie nicht wusste, wer dafür verantwortlich war, würde keine Sitzende alles erfahren, nicht einmal eine Blaue.