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Sie nahm das oberste Blatt Papier von dem Stapel und überflog es kurz. »Anscheinend wurden die Straßen trotz meines ausdrücklichen Befehls noch immer nicht gereinigt. Warum?«

Ein unbehaglicher Ausdruck trat in Tarnas Augen. Es war das erste Mal, dass Elaida sie besorgt sah. »Die Leute haben Angst, Mutter. Sie verlassen ihre Häuser nur, wenn es unbedingt sein muss, und selbst dann nur mit großem Zögern. Sie sagen, sie haben die Toten auf den Straßen wandeln gesehen.«

»Ist das bestätigt worden?«, fragte Elaida ruhig. Ihr schien das Blut zu gefrieren. »Haben Schwestern das auch gesehen?«

»Keine der Roten.« Die anderen würden mit ihr nur als Behüterin sprechen, aber niemals unbefangen, niemals, um sie ins Vertrauen zu ziehen. Wie beim Licht sollte man das nur in Ordnung bringen? »Aber die Stadtbewohner beharren darauf. Sie haben gesehen, was sie gesehen haben.«

Langsam legte Elaida das Blatt zur Seite. Sie wollte frösteln. Sie hatte alles gelesen, was sie über die Letzte Schlacht gefunden hatte, selbst Studien und Vorhersagen, die so alt waren, dass man sie nie aus der Alten Sprache übersetzt hatte und sie staubbedeckt in den finstersten Ecken der Bibliothek gelegen hatten. Der junge al’Thor war ein Vorbote gewesen, aber jetzt schien es, als würde Tarmon Gai’don früher eintreten, als alle gedacht hatten. Mehrere der uralten Vorhersagen aus der Frühzeit der Weißen Burg verkündeten, dass das Erscheinen der Toten das erste Zeichen sein würde, eine Schwächung der Realität, während der Dunkle König seine Kräfte sammelte. Nicht mehr lange, und es würden schlimmere Dinge geschehen.

»Lasst die Burgwache arbeitsfähige Männer aus den Häusern zerren, falls es nötig sein sollte«, sagte sie beherrscht.

»Ich will, dass die Straßen sauber sind, und ich will hören, dass man heute damit anfängt. Heute!«

Da hatte sie doch tatsächlich ihre übliche eisige Selbstkontrolle verloren. Die Behüterin hob die Brauen, sagte aber natürlich bloß: »Wie Ihr befehlt, Mutter.«

Elaida strahlte Gelassenheit aus, aber das war eine Scharade. Was kommen würde, würde kommen. Und sie hatte den jungen al’Thor noch immer nicht unter Kontrolle. Wenn sie nur daran dachte, dass sie ihn einst in der Hand gehabt hatte! Hätte sie es doch nur damals gewusst. Die verdammte Alviarin und die dreimal verfluchte Proklamation, die jeden außer der Weißen Burg mit einem Bann belegte, der an ihn herantrat. Sie hätte sie zurücknehmen können, aber das wäre als Schwäche erschienen, und davon abgesehen, der Schaden War angerichtet und konnte nicht mehr so ohne weiteres behoben werden. Egal, bald würde sie Elayne wieder unter Kontrolle haben, und das Königshaus von Andor war der Schlüssel, um Tarmon Gai’don zu gewinnen. Das hatte sie selbst vor langer Zeit vorhergesehen. Und die Nachricht, dass es in Tarabon zum Aufstand gegen die Seanchaner gekommen war, war eine erfreuliche Lektüre gewesen. Nicht alles war ein undurchdringliches Dorngebüsch, das sie von allen Seiten stach.

Sie überflog den zweiten Bericht und verzog das Gesicht.

Niemand mochte Abwasserkanäle, aber sie stellten ein Drittel der Lebensadern einer jeden Stadt dar, die anderen beiden waren Handel und Frischwasser. Ohne die Abwasserkanäle würde Tar Valon Dutzenden von Krankheiten zum Opfer fallen, sämtliche Bemühungen der Schwestern untergraben, ganz zu schweigen den Gestank noch übertreffen, den der verfaulende Müll jetzt schon in den Straßen anrichtete. Auch wenn der Handel im Augenblick zu einem Rinnsal geworden war, kam das Wasser noch immer durch das flussaufwärts gerichtete Inselende und wurde dann an über die ganze Stadt verstreute Wassertürme verteilt, um allen an einfachen und verzierten Springbrunnen zur Verfügung zu stehen, aber jetzt hatte es den Anschein, als wären die Abwasserkanäle am flussabwärts gerichteten Ende der Insel so gut wie verstopft. Sie tauchte ihre Feder in das Tintenfässchen und kritzelte ICH WILL, DASS SIE MORGEN FREIGE- RÄUMT SIND!, auf den oberen Rand der Seite setzte sie ihren Namen drunter. Wenn die Schreiber einen Funken Verstand hatten, dann war diese Arbeit bereits veranlasst worden, aber sie war noch nie der Ansicht gewesen, dass Schreiber Verstand gehabt hätten.

Der nächste Bericht ließ sie die Stirn runzeln. »Ratten in der Burg?« Das war mehr als nur ernst! Das hätte ganz oben liegen müssen! »Tarna, lasst jemanden die Schutzgewebe überprüfen.« Diese Schutzgewebe hielten seit dem Bau der Burg, aber vielleicht waren sie ja nach dreitausend Jahren schwächer geworden. Wie viele dieser Ratten waren die Spione des Dunklen Königs?

Es klopfte an der Tür, einen Augenblick später gefolgt von einer molligen Aufgenommenen namens Anemara, die ihre gestreiften Röcke zu einem tiefen Knicks raffte. »Bitte, Mutter, Felaana Sedai und Negaine Sedai haben eine Frau zu Euch gebracht, die sie in der Burg umherwandernd vorgefunden haben. Sie sagen, sie will dem Amyrlin-Sitz eine Petition überbringen.«

»Sagt Ihr, sie soll warten, und bietet Ihr Tee an, Anemara«, sagte Tarna energisch. »Die Mutter ist beschäftigt…«

»Nein, nein«, unterbrach Elaida sie. »schickt sie rein, Kind, schickt sie rein.« Es war viel zu lange her, dass sich jemand mit einer Petition an sie gewandt hatte. Aber sie war in der Stimmung, sie zu gewähren, falls es sich nicht um etwas allzu Lächerliches handelte. Vielleicht würde das den Strom wieder anfachen. Es war auch viel zu lange her, dass Schwestern zu ihr gekommen waren, ohne herzitiert worden zu sein. Vielleicht würden die beiden Braunen auch diese Dürre beenden.

Aber nur eine Frau betrat den Raum und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Dem Reitgewand aus Seide und dem guten Umhang nach zu urteilen, war sie vermutlich eine Adlige oder eine wohlhabende Kauffrau, eine Annahme, die von ihrem selbstbewussten Auftreten noch unterstützt wurde. Elaida war sich sicher, die Frau noch nie zuvor gesehen zu haben, aber etwas an dem Gesicht, das von Haar eingerahmt wurde, das noch heller als Tarnas war, erschien vage vertraut.

Elaida stand auf und ging mit ausgestreckten Händen um den Tisch herum. Und mit einem ungewohnten Lächeln. Sie versuchte, es willkommen aussehen zu lassen. »Wie ich gehört habe, habt Ihr eine Petition für mich, Tochter. Tarna, eine Tasse Tee für sie.« Der Silberkessel auf dem Silbertablett auf dem Beistelltisch musste zumindest noch warm sein.

»Die Petition, das habe ich sie nur glauben lassen, um ohne blaue Flecke zu Euch vordringen zu können, Mutter«, erwiderte die Frau mit einem tarabonischen Akzent und machte einen Knicks, und mitten in der Bewegung war ihr Gesicht plötzlich das von Beonin Marinye.

Tarna umarmte Saidar und webte eine Abschirmung um die Frau, aber Elaida begnügte sich damit, die Fäuste in die Hüften zu stemmen.

»Es wäre eine Untertreibung, wenn ich behaupte, ich wäre überrascht, dass Ihr es wagt, Euer Gesicht hier zu zeigen, Beonin.«

»Es ist mir gelungen, in Salidar Teil dessen zu werden, was man als herrschenden Rat bezeichnen könnte«, sagte die Graue ruhig. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie dort saßen und nichts taten, und ich habe die Gerüchte in Umlauf gebracht, dass viele von ihnen in Wahrheit insgeheim Eure Anhänger sind. Die Schwestern sind einander mit solchem Misstrauen begegnet, dass ich glaube, die meisten wären an diesem Punkt bald zur Burg zurückgekehrt, aber dann sind Sitzende von anderen Ajahs als der Blauen aufgetaucht. Plötzlich hatten sie ihren eigenen Burgsaal gewählt, und der Rat wurde nicht mehr gebraucht. Ich habe dennoch weiterhin getan, was ich konnte. Ich weiß, dass Ihr mir befohlen hattet, bei ihnen zu bleiben, bis sie alle zur Rückkehr bereit sind, aber das muss in wenigen Tagen geschehen. Falls ich mir die Bemerkung erlauben darf, Mutter, es war eine ausgezeichnete Entscheidung, Egwene nicht vor Gericht zu stellen. Zum einen hat sie die überragende Fähigkeit, neue Gewebe zu entdecken, darin ist sie noch besser als Elayne Trakand oder Nynaeve al’Meara. Zum anderen haben Lelaine und Romanda miteinander darum gekämpft, zur Amyrlin erhoben zu werden, bevor man sie auserwählte. Da Egwene noch lebt, werden sie wieder darum kämpfen, aber keine kann gewinnen, oder? Ich glaube, dass mir bald andere Schwestern folgen werden. In ein oder zwei Wochen werden Lelaine und Romanda mit den Resten ihres so genannten Saals allein dastehen.«