»Wie könnt Ihr wissen, dass das al’Vere-Mädchen nicht vor Gericht gestellt wird?«, wollte Elaida wissen. »Wieso wisst Ihr überhaupt, dass sie noch am Leben ist? Löst die Abschirmung, Tarna!«
Tarna gehorchte, und Beonin nickte ihr zu, als sei sie dankbar. Jedenfalls ein bisschen. Diese großen blaugrauen Augen ließen Beonin möglicherweise immer leicht überrascht erscheinen, aber sie war eine Frau, die über eine ausgesprochene Selbstbeherrschung verfügte. Kombinierte man diese Selbstbeherrschung mit einer aus tiefem Herzen kommenden Hingabe an das Gesetz und fügte noch Ehrgeiz hinzu, von dem sie eine Menge hatte, und Elaida hatte sofort gewusst, dass Beonin die richtige Kandidatin war, die man den aus der Burg geflohenen Schwestern nachschicken konnte. Und die Frau hatte völlig versagt! Ja, gut, vielleicht hatte sie etwas Unfrieden gestiftet, aber sie hatte absolut nichts von dem erreicht, was Elaida von ihr erwartet hatte. Nicht das Geringste! Sie würde feststellen, dass ihre Belohnung ihrem Versagen entsprechen würde.
»Egwene, sie kann Tel’aran’rhiod betreten, indem sie einfach einschläft, Mutter. Ich war selbst dort und habe sie gesehen, aber ich musste ein Ter’angreal benutzen. Ich kam an keines von denen heran, die die Rebellen in ihrem Besitz haben, um sie mitzubringen. Wie dem auch sei, sie hat mit Siuan Sanche in deren Träumen gesprochen, erzählt man sich, auch wenn ich es eher für wahrscheinlich halte, dass es in der Welt der Träume war. Angeblich hat sie erzählt, dass sie eine Gefangene ist, aber sie wollte nicht verraten, wo, und sie hat jeden Rettungsversuch verboten. Darf ich mir eine Tasse Tee nehmen?«
Elaida war so verblüfft, dass es ihr die Sprache verschlug.
Sie bedeutete Beonin, sich zu bedienen, und die Graue machte erneut einen Knicks, bevor sie zu dem Beistelltisch ging und die Silberkanne vorsichtig mit dem Handrücken berührte. Das Mädchen konnte Tel’aran’rhiod betreten! Und es gab Ter’angreale, die das ebenfalls erlaubten? Die Welt der Träume war fast so etwas wie eine Legende. Und diesen beunruhigenden Hinweisen zufolge, die die Ajahs gnädigerweise mit ihr geteilt hatten, hatte das Mädchen das Gewebe für das Schnelle Reisen wiederentdeckt und noch jede Menge anderer Entdeckungen gemacht. Das war der ausschlaggebende Faktor für ihre Entscheidung gewesen, das Mädchen der Burg zu erhalten, aber nach all dem anderen jetzt auch noch das?
»Falls Egwene das tun kann, Mutter, dann ist sie vielleicht wirklich eine Träumerin«, sagte Tarna. »Die Warnung, die sie Silviana übermittelt hat…«
»Ist nutzlos, Tarna. Die Seanchaner sind noch immer tief im Landesinneren von Altara und haben Illian kaum berührt.«
Wenigstens waren die Ajah bereit, alles weiterzugeben, was sie über die Seanchaner erfuhren. Zumindest hoffte sie, dass sie alles weitergaben. Der Gedanke ließ ihre Stimme rauer klingen. »Solange sie das Reisen nicht lernen, fällt Euch irgendeine Vorsichtsmaßnahme ein, die ich außer denen ergreifen sollte, die bereits veranlasst sind?« Natürlich fiel ihr nichts ein. Das Mädchen hatte eine Rettungsaktion verboten? Oberflächlich gesehen war das gut, aber es war ein Hinweis darauf, dass sie sich noch immer als Amyrlin betrachtete. Nun, Silviana würde ihr diese Flausen schnell austreiben, falls die Schwestern, die sie in ihren Klassen unterrichteten, versagten. »Kann man ihr genug von dem Trank verabreichen, um sie aus Tel’aran’rhiod herauszuhalten?«
Tarna verzog leicht den Mund — niemandem gefiel das widerwärtige Gebräu, nicht einmal den Braunen, die sich dazu überwunden hatten, es auszuprobieren — und schüttelte den Kopf. »Wir können sie für die Nacht betäuben, aber sie wäre am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen, und wer vermag schon zu sagen, ob es diese Fähigkeit überhaupt beeinflussen würde.«
»Darf ich Euch einschenken, Mutter?«, fragte Beonin und balancierte eine weiße Teetasse aus dünnem Porzellan auf den Fingerspitzen. »Tarna? Die wichtigste Neuigkeit, die ich mitgebracht habe…«
»Ich will keinen Tee«, sagte Elaida gereizt. »Habt Ihr irgendetwas mitgebracht, um Eure Haut wegen Eurem erbärmlichen Versagen zu retten? Kennt Ihr die Gewebe für das Schnelle Reisen oder dieses Gleiten .. .« Es gab so viele. Vielleicht waren es alles Talente und Fertigkeiten, die verloren gegangen waren, aber anscheinend hatte man den meisten noch nicht wieder Namen verliehen.
Die Graue spähte mit völlig reglosem Gesicht über ihre Teetasse. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich kann kein Cuendillar herstellen, aber ich kann die neuen Heilgewebe so gut wie die meisten Schwestern weben, und ich kenne sie alle.« Ein Hauch Aufregung stahl sich in ihre Stimme. »Das Wunderbarste ist das Schnelle Reisen.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, umarmte sie die Quelle und webte Geist. Ein vertikaler Silberstrich erschien vor einer Wand und verbreiterte sich zu einem Anblick schneebedeckter Eichen. Ein kalter Windstoß fuhr in den Raum und ließ die Kaminflammen tanzen. »Das nennt man ein Wegetor. Es kann nur erschaffen werden, wenn man mit dem Ausgangspunkt gut vertraut ist. Will man zu einem Ort, der einem nicht bekannt ist, benutzt man das Gleiten.« Sie veränderte das Gewebe, und die Öffnung zerschmolz wieder zu dem silbrigen Strich, der erneut breiter wurde. Die Eichen wurden von Dunkelheit ersetzt sowie einer grau gestrichenen, mit einer Reling versehenen Barke, die vor der Öffnung auf dem Nichts trieb.
»Löst das Gewebe auf«, sagte Elaida. Sie hatte das Gefühl, dass, sollte sie zu dieser Barke gehen, sich die Dunkelheit in allen Richtungen so weit erstrecken würde, wie sie sehen konnte. Dass sie für alle Ewigkeit fallen würde. Es verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Die Öffnung — das Wegetor — verschwand. Die Erinnerung daran blieb jedoch.
Sie nahm ihren Platz hinter dem Tisch wieder ein und öffnete das größte der lackierten Kästchen, das mit roten Rosen und goldenen Schnörkeln verziert war. Sie nahm eine kleine Elfenbeinminiatur von dem obersten Einsatz, eine Schwalbe mit gespreiztem Schwanz, der die Jahre eine dunkelgelbe Färbung verliehen hatten, und strich mit dem Daumen über die geschwungenen Schwingen. »Ohne meine Erlaubnis werdet Ihr diese Dinge niemandem beibringen.«
»Aber .. . warum denn nicht, Mutter?«
»Einige der Ajahs widersetzen sich der Mutter beinahe genauso hartnäckig wie jene Schwestern auf der anderen Flussseite«, sagte Tarna.
Elaida warf ihrer Behüterin der Chroniken einen unwirschen Blick zu, aber das kühle Gesicht nahm ihn unbeeindruckt hin. »Ich werde entscheiden, wer… verlässlich… genug ist, um es beigebracht zu bekommen, Beonin. Ich will, dass Ihr es mir versprecht. Nein, ich will, dass Ihr schwört.«
»Auf dem Hinweg habe ich Schwestern verschiedener Ajahs gesehen, die sich böse anstarrten. Was ist in der Burg geschehen, Mutter?«
»Euren Eid, Beonin.«
Die Graue stand da und schaute lange genug in ihre Teetasse, dass Elaida langsam glaubte, sie würde sich weigern. Aber der Ehrgeiz siegte. Sie hatte sich in der Hoffnung, bevorzugt zu werden, an Elaidas Röcke gebunden, und das würde sie jetzt nicht wegwerfen. »Beim Licht und bei meiner Hoffnung auf Errettung und Wiedergeburt schwöre ich, dass ich ohne die Erlaubnis des Amyrlin-Sitzes niemandem die Gewebe beibringen werde, die ich unter den Rebellen gelernt habe.« Sie hielte inne, nippte an der Tasse. »Einige Schwestern in der Burg, sie sind vielleicht weniger verlässlich, als Ihr glaubt. Ich habe versucht, das zu verhindern, aber der ›Rat‹ hat zehn Schwestern zur Burg zurückgeschickt, um die Geschichte über die Rote Ajah und Logain zu verbreiten.« Elaida erkannte nur wenige der Namen, die sie abspulte, aber den Letzten schon. Der ließ sie sich kerzengerade hinsetzen.