»So ist sie nicht besonders eindrucksvoll«, murmelte Sevanna und schaute finster in ihren Weinpokal. »Nicht mal der Ring lässt sie wie eine Aes Sedai aussehen.« Sie schüttelte gereizt den Kopf. Aus einem Grund, den Faile nicht verstand, war es Sevanna außerordentlich wichtig, dass jeder wusste, dass Galina eine Schwester war. Sie hatte sogar angefangen, sie mit diesem Ehrentitel anzusprechen. »Warum seid Ihr so früh hier, Therava? Ich habe noch nicht gegessen. Wollt Ihr Wein haben?«
»Wasser«, sagte Therava energisch. »Und was die frühe Stunde angeht, die Sonne hat den Horizont fast schon hinter sich gelassen. Ich habe gefrühstückt, bevor sie aufging. Ihr werdet so träge wie ein Feuchtländer, Sevanna.«
Die Gai'schain Lusara, eine vollbusige Domani, füllte rasch einen Pokal aus der silbernen Wasserkanne. Sevanna schien sich über die Beharrlichkeit der Weisen Frau, nur Wasser zu trinken, zu amüsieren, aber sie hatte immer welches da. Alles andere wäre auch eine Beleidigung gewesen, die selbst sie zu vermeiden gesucht hätte. Die kupferhäutige Domani war eine Kauffrau und schon weit in den mittleren Jahren, aber die paar weißen Haare inmitten der schwarzen, die bis unterhalb ihrer Schulter fielen, hatten nicht ausgereicht, um sie zu retten. Sie war eine atemberaubende Schönheit, und Sevanna sammelte die Reichen, Mächtigen und Schönen, nahm sie sich auch dann, wenn sie die Gai'schain von anderen waren. Es gab so viele Gai'schain, dass sich nur wenige beschwerten, wenn sie einen verloren. Lusara machte einen anmutigen Knicks und verbeugte sich, um Therava auf ihrem Kissen das Tablett anzubieten, alles so, wie es sich gehörte, aber auf dem Weg zurück zu ihrem Platz an der Wand lächelte sie Faile zu. Und schlimmer noch, es war ein verschwörerisches Lächeln.
Faile unterdrückte ein Seufzen. Die letzten Prügel hatte sie für ein Seufzen im falschen Augenblick bekommen. Lusara gehörte zu jenen, die ihr in den vergangenen zwei Wochen die Treue geschworen hatten. Nach Aravine hatte Faile sich bemüht, bei der Auswahl sorgfältiger vorzugehen, aber jemanden abzuweisen, der die Treue schwören wollte, schuf nur einen potenziellen Verräter, und so hatte sie viel zu viele Anhänger, und einer guten Zahl davon konnte sie sich nicht sicher sein. Langsam kam sie zu der Ansicht, dass Lusara vertrauenswürdig war oder sie zumindest nicht vorsätzlich verraten würde, aber die Frau behandelte ihre Fluchtpläne wie ein Kinderspiel, als würde es keine Konsequenzen haben, wenn sie verloren. Anscheinend hatte sie das Kaufmannsgewerbe auf die gleiche Weise betrieben, mehrere Vermögen gemacht und auch wieder verloren, aber Faile würde keine zweite Chance bekommen, wenn sie scheiterten. Und das Gleiche galt für Alliandre oder Maighdin. Oder Lusara. Diejenigen von Sevannas Gai'schain, die einen Fluchtversuch gewagt hatten, waren angekettet, wenn sie nicht arbeiteten oder sie bedienten.
Therava nahm einen Schluck Wasser, dann stellte sie den Pokal auf dem Teppich mit dem Blumenmuster ab und fixierte Sevanna mit stählernem Blick. »Die Weisen Frauen sind der Meinung, dass es für uns höchste Zeit ist, nach Norden und Osten zu reisen. Wir können in den dortigen Bergen leicht zu verteidigende Täler finden, und wir können sie in weniger als zwei Wochen erreichen, selbst wenn uns die Gai'schain langsamer machen. Dieser Ort hier ist nach allen Seiten offen, und unsere Streifzüge, um Nahrung herbeizuschaffen, müssen wir immer weiter ausdehnen.«
Sevannas grüne Augen erwiderten das Starren, ohne zu blinzeln; Faile bezweifelte, das auch geschafft zu haben. Es ärgerte Sevanna, wenn sich die anderen Weisen Frauen ohne sie trafen, und sie ließ es oft an ihren Gai'schain aus, aber sie lächelte und trank einen Schluck Wein, bevor sie in geduldigem Tonfall antwortete, so als müsste sie jemandem etwas erklären, der leicht zurückgeblieben war. »Hier gibt es guten Ackerboden, und wir haben ihre Aussaat zusätzlich zu der unseren. Wer kann schon sagen, wie der Boden in den Bergen sein wird? Unsere Raubzüge bringen uns Rinder und Schafe und Ziegen. Hier gibt es gute Weidegründe. Welche Weidegründe kennt Ihr in den Bergen, Therava? Hier haben wir mehr Wasser, als ein Clan jemals besessen hat. Wisst Ihr, wo in den Bergen das Wasser ist? Und was die Verteidigung angeht, wer will uns angreifen? Diese Feuchtländer laufen vor unseren Speeren fort.«
»Nicht alle laufen weg«, sagte Therava trocken. »Manche können den Tanz des Speers sogar gut tanzen. Und was ist, wenn Rand al'Thor einen der anderen Clans gegen uns ausschickt? Wir würden das erst bemerken, wenn uns die Hörner aufspießen.« Plötzlich lächelte sie auch, ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Man munkelt, Ihr habt den Plan, Euch gefangen nehmen zu lassen und Rand al'Thors Gai'schain zu werden, damit Ihr ihn dazu bringen könnt, Euch zu heiraten. Ein amüsanter Einfall, findet Ihr nicht auch?«
Faile zuckte zusammen, obwohl sie das nicht wollte.
Sevannas verrückte Absicht, al'Thor zu heiraten — sie musste verrückt sein, wenn sie glaubte, das erreichen zu können! —, war der Grund, warum Galina eine Gefahr für sie darstellte.
Falls die Aiel nicht wusste, dass Perrin mit al'Thor verbunden war, konnte Galina es ihr verraten. Würde es ihr verraten, wenn sie nicht den verfluchten Eidstab in die Hände bekam. Dann würde Sevanna nicht mehr das geringste Risiko eingehen, sie zu verlieren. Sie würde mit der gleichen Sicherheit angekettet werden, als hätte sie einen Fluchtversuch unternommen.
Sevanna sah alles andere als amüsiert aus. Sie beugte sich mit funkelnden Augen nach vorn, und ihre Robe klaffte auf, um ihren Busen endgültig zu entblößen. »Wer sagt das? Wer?«
Therava ergriff den Pokal und nahm noch einen Schluck Wasser. Sevanna begriff, dass sie keine Antwort erhalten würde, lehnte sich zurück und richtete ihre Robe. Ihre Augen funkelten allerdings immer noch wie Smaragde, und in ihren Worten lag nichts Gleichgültiges. Sie waren so hart wie ihr Blick. »Ich werde Rand al'Thor heiraten, Therava. Ich hatte ihn fast soweit, bis Ihr und die anderen Weisen Frauen mich im Stich gelassen habt. Ich werde ihn heiraten, die Clans vereinigen und alle Feuchtländer erobern!«
Therava grinste hämisch hinter ihrem Pokal. »Couladin war der Car'a'carn, Sevanna. Ich habe die Weisen Frauen noch nicht gefunden, die ihm die Erlaubnis gaben, nach Rhuidean zu gehen, aber das werde ich. Rand al'Thor ist eine Kreatur der Aes Sedai. Sie haben ihm vorgeschrieben, was er in Aleair Dal sagen sollte, und es war ein schwarzer Tag, als er Geheimnisse enthüllte, für die nur wenige stark genug sind, um damit leben zu können. Seid dankbar, dass die meisten es für Lügen hielten. Aber ich vergaß… Ihr seid ja nie selbst nach Rhuidean gegangen. Ihr habt seine Lügen ja selbst geglaubt.«
Gai'schain traten ein. Ihre weißen Gewänder waren vom Regen durchnässt, und sie hielten die Säume bis zum Knie hoch, bis sie drinnen waren. Jeder trug den goldenen Kragen und den Gürtel. Ihre weichen weißen Schnürstiefel hinterließen schlammige Abdrücke auf den Teppichen. Später, wenn sie getrocknet waren, würden sie sie entfernen müssen, aber deutlich sichtbare Schlammspuren auf dem Gewand brachte einem unweigerlich ein paar Stockschläge ein. Sevanna wollte, dass ihre Gai'schain makellos aussahen, wenn sie in ihrer Nähe waren. Keine der Frauen schenkte den Neuankömmlingen auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Theravas Worte schienen Sevanna bestürzt zu haben.
»Warum interessiert Euch, wer Couladin die Erlaubnis gab? Das spielt doch keine Rolle«, sagte sie; als sie keine Antwort erhielt, wedelte sie mit der Hand, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Couladin ist tot. Rand al'Thor trägt die Zeichen, wie auch immer er sie bekommen hat. Ich werde ihn heiraten, und ich werde ihn benutzen. Wenn ihn die Aes Sedai kontrollieren konnten — und ich habe gesehen, wie sie mit ihm wie mit einem Säugling umgesprungen sind —, dann kann ich das auch. Mit einem klein wenig Unterstützung von Euch. Und Ihr werdet mir helfen. Seid Ihr nicht der Meinung gewesen, dass die Wiedervereinigung aller Clans die Mühe wert ist, ganz egal, wie man das macht? Einst seid Ihr es gewesen.« Irgendwie lag da mehr als nur ein Hauch von Drohung darin. »Wir Shaido werden mit einem Sprung der mächtigste aller Clans sein.«