Keine der Aes Sedai schien antworten zu wollen, also tat es Frau Anan für sie. »Es gab keinen Streit. Joline wollte sich die Seanchaner selbst ansehen, und sie ließ es sich nicht ausreden. Bethamin entschied, sie zu disziplinieren, so als hätte sie keine Ahnung, was passieren würde.« Die Wirtin schüttelte angewidert den Kopf. »Sie wollte Joline über die Knie ziehen, und Seta half ihr, und Edesina fesselte sie mit Strömen aus Luft. Nehme ich jedenfalls an«, sagte sie, als die Aes Sedai sie scharf musterten. »Ich kann vielleicht die Macht nicht lenken, aber ich habe Augen im Kopf.«
»Das erklärt aber nicht das, was ich gefühlt habe«, sagte Mat. »Hier wurde viel Macht gelenkt.«
Frau Anan und die drei Aes Sedai musterten ihn nachdenklich, bohrende Blicke, die das Medaillon zu suchen schienen. Sie würden sein Ter’angreal nicht vergessen, so viel stand fest.
Joline erzählte weiter. »Bethamin hat die Macht gelenkt.
Ich habe das Gewebe, das sie benutzt hat, noch nie zuvor gesehen, aber ein paar Augenblicke lang, bis sie die Quelle verlor, hat sie uns drei in einen Funkenregen gehüllt. Ich glaube, sie hat so viel von der Macht benutzt, wie sie aufnehmen konnte.«
Plötzlich wurde Bethamin von Schluchzern geschüttelt. Sie sackte zusammen, fiel fast zu Boden. »Ich wollte es nicht«, weinte sie mit zuckenden Schultern und verzerrtem Gesicht. »Ich glaubte, ihr wolltet mich töten, aber ich habe das nicht beabsichtigt.« Seta fing an, vor und zurück zu schaukeln und starrte ihre Freundin entsetzt an. Oder vielleicht auch ihre ehemalige Freundin. Sie wussten beide, dass ein A’dam sie kontrollieren konnte, vielleicht sogar jede Sul’dam, aber sie hatten die volle Bedeutung dieser Tatsache vermutlich verdrängt. Jede Frau, die ein A’dam benutzen konnte, konnte lernen, die Macht zu lenken. Vermutlich hatten sie versucht, dies zu leugnen, es zu vergessen. Die Macht dann tatsächlich zu lenken veränderte natürlich alles.
Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, das war das Letzte, was er gebrauchen konnte. »Was wollt Ihr deswegen unternehmen?« Nur eine Aes Sedai konnte das regeln.
»Wenn sie jetzt damit angefangen hat, kann sie nicht mehr damit aufhören. Das weiß ich.«
»Lasst sie sterben«, sagte Teslyn grob. »Wir können sie abgeschirmt halten, bis wir sie loswerden können, dann kann sie sterben.«
»Das können wir nicht tun.« Edesina klang schockiert. Wenn auch offenbar nicht wegen der Vorstellung, dass Bethamin sterben würde. »Sobald wie sie gehen lassen, wird sie zu einer Gefahr für alle in ihrer Umgebung.«
»Ich werde es nicht wieder tun.« Bethamin weinte, bettelte fast. »Bestimmt nicht!«
Joline drängte sich an Mat vorbei, als wäre er ein Kleiderständer, baute sich vor Bethamin auf und starrte mit in die Hüften gestemmten Fäusten zu der größeren Frau hoch. »Ihr werdet nicht aufhören. Das geht nicht mehr, nachdem Ihr einmal angefangen habt. Oh, Ihr könnt vielleicht Monate ohne den Versuch verbringen, die Macht zu lenken, aber Ihr werdet es wieder versuchen, und wieder, und jedes Mal wird sich die Gefahr für Euch erhöhen.« Mit einem Seufzen senkte sie die Hände. »Ihr seid viel zu alt für das Novizinnenbuch, aber das lässt sich nicht ändern. Wir werden Euch unterrichten müssen. Jedenfalls genug, damit Ihr wenigstens keine Gefahr darstellt.«
»Sie unterrichten?«, kreischte Teslyn und stemmte ihrerseits die Fäuste in die Hüften. »Ich sage, wir lassen sie sterben! Habt Ihr auch nur eine Vorstellung davon, wie mich diese Sul’dam behandelt haben, als ich ihre Gefangene war?«
»Nein, da Ihr nie Einzelheiten erzählt habt, außer darüber zu jammern, wie schrecklich es war«, erwiderte Joline trocken, um dann energisch hinzuzufügen: »Aber ich werde keine Frau sterben lassen, wenn ich es verhindern kann.«
Das war natürlich nicht das Ende. Edesina stellte sich auf Jolines Seite, genau wie Frau Anan, so als hätte sie das gleiche Recht zu sprechen wie eine Aes Sedai.
Unbegreiflicherweise schlossen sich Bethamin und Seta Teslyn an, bestritten jeden Wunsch zu lernen, wie man die Macht lenkte, fuchtelten mit den Händen herum und argumentierten genauso laut wie alle anderen. Klugerweise nutzte Mat die Gelegenheit, sich aus dem Wagen zu stehlen und leise die Tür hinter sich zuzuziehen. Unnötig, sie an ihn zu erinnern. Die Aes Sedai würden es bald genug tun. Wenigstens musste er sich keine Sorgen mehr darüber machen, wo die verdammten A’dam waren und ob die Sul’dam versuchen würden, sie erneut zu benutzen. Das war endgültig und für alle Zeiten erledigt.
Er behielt Recht, was Blaeric und Fen betraf. Sie warteten an der letzten Stufe, und ihre Gesichter glichen Gewitterwolken. Ohne jeden Zweifel wussten sie genau, was mit Joline geschehen war. Aber wie sich herausstellte, nicht, wer die Schuld trug.
»Was ist da drin passiert, Cauthon?«, wollte Blaeric mit einem durchdringenden Blick wissen. Er war der etwas Größere der beiden, hatte seinen schienarischen Haarknoten abrasiert und war nicht über die kurzen Haare erfreut, die seinen Kopf bedeckten.
»Habt Ihr damit zu tun gehabt?«, fragte Fen kalt.
»Wie könnte ich?«, erwiderte Mat und kam die Stufen herunter, als hätte er keine Sorge auf der Welt. »Sie ist eine Aes Sedai, falls Ihr das nicht wissen solltet. Wenn Ihr wissen wollt, was passiert ist, dann schlage ich vor, dass Ihr sie fragt. Ich bin nicht so dumm, darüber zu sprechen. Aber ich würde sie nicht sofort fragen. Sie streiten sich noch immer. Ich habe die Gelegenheit genutzt, mich zu verdrücken, solange das noch mit heiler Haut ging.«
Vielleicht nicht die beste Wortwahl. Die Gesichter der beiden Behüter wurden noch finsterer, falls das überhaupt möglich war. Aber sie ließen ihn gehen, ohne dass er nach seinen Messern greifen musste. Immerhin etwas. Und keiner von ihnen schien es eilig zu haben, den Wagen zu betreten. Stattdessen machten sie es sich auf den Stufen bequem, um zu warten, Narren, die sie waren. Er bezweifelte, dass Joline ihnen viel erzählen würde, aber sie würde vielleicht ihre Wut an ihnen auslassen, weil sie Bescheid wussten. Er an ihrer Stelle hätte Arbeiten gefunden, die ihn von dem Wagen fern hielten… so einen oder zwei Monate. Das hätte vielleicht geholfen. Jedenfalls ein bisschen. Bei einigen Dingen hatten Frauen ein langes Gedächtnis. Er selbst würde Joline fortan im Auge behalten müssen. Aber das war es wert gewesen.
Da die Seanchaner auf der anderen Straßenseite kampierten und sich Aes Sedai stritten und Frauen die Macht lenkten, als hätten sie noch nie von den Seanchanern gehört, und die Würfel in seinem Kopf klapperten, konnte ihn nicht einmal die Tatsache beruhigen, dass er am Abend gegen Tuon zwei Partien Steine gewann. Er ging mit dem Würfellärm in seinem Schädel schlafen — auf dem Boden, da Domon mit dem zweiten Bett dran war; Egeanin bekam immer das andere —, aber er war davon überzeugt, dass der nächste Tag besser sein musste als der vergangene. Nun, er hatte nie behauptet, immer Recht zu behalten. Er wünschte sich nur, er würde sich nicht so oft irren.
8
Dracheneier
Der Himmel am nächsten Morgen war noch dunkel, als Luca die Artisten das Lager abbrechen, die große Zeltplanenwand einpacken und alles in die Wagen verstauen ließ. Der Lärm weckte Mat, der vom Schlafen auf dem Boden völlig steif und benommen war. Soweit ihn die verdammten Würfel überhaupt hatten schlafen lassen. So etwas konnte jedem Mann den Schlaf rauben.
Luca eilte in Hemdsärmeln mit einer Laterne umher, gab Befehle und behinderte alle mehr, als dass er die Dinge beschleunigte, aber Petra hielt einen Moment lang darin inne, das Vierer-Gespann an seinen und Clarines Wagen anzuschirren, um alles zu erklären. Da der untergehende Mond tief am Horizont stand und zur Hälfte von Bäumen verdeckt wurde, spendete eine Laterne auf dem Kutschbock das einzige Licht, das sie hatten, ein flackernder gelber Lichtkreis, der Hunderte Male und mehr im Lager wiederholt wurde. Clarine führte die Hunde aus, da sie den größten Teil des Tages im Wagen eingesperrt sein würden.