»Offensichtlich hat sich Selucia bei den Ameisen verzählt«, sagte Tuon und platzierte mit dieser seltsam anmutigen Krümmung ihrer Finger einen weißen Stein auf das Brett. Selucia, die in eine weiße Bluse und einen braunen Reitrock gekleidet war, sah über ihrer Schulter zu und nickte. Wie gewöhnlich trug sie selbst im Wageninneren ein Kopftuch über dem kurzen blonden Haar, an diesem Tag eines aus roter und goldener Seide. Tuon war in blauen Seidenbrokat gekleidet, einen Mantel von seltsamem Schnitt, der ihre Hüfte bedeckte, sowie einen Reitrock, der so schmal war, dass er wie eine weite Hose wirkte. Sie verbrachte viel Zeit damit, der Näherin genaue Anweisungen zu geben, was sie genäht haben wollte, und nur wenig davon ähnelte auch nur im Mindesten der Garderobe, die er kannte. Vermutlich war das alles im seanchanischen Stil, auch wenn sie ein paar Reitgewänder hatte anfertigen lassen, die kein Aufsehen erregten, wenn sie nach draußen ging. Regen prasselte leise auf das Wagendach. »Offensichtlich wurde das, was uns die Vögel sagten, durch die Ameisen abgewandelt. Es ist nie einfach, Spielzeug. Ihr müsst diese Dinge lernen. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr unwissend seid.«
Mat nickte, als würde das einen Sinn ergeben, und setzte seinen schwarzen Stein. Und sie bezeichnete sein Unbehagen wegen Krähen und Raben als Aberglaube! Zu wissen, wann man in Anwesenheit von Frauen den Mund zu halten hatte, war eine nützliche Fertigkeit. Bei Männern auch, aber bei Frauen noch mehr. Bei Männern wusste man, was ihr Temperament in Wallung brachte.
Sich mit ihr zu unterhalten konnte aber auch auf andere Weise gefährlich sein. »Was wisst Ihr über den Wiedergeborenen Drachen?«, fragte sie ihn an einem anderen Abend.
Er verschluckte sich an seinem Wein, und die wirbelnden Farben lösten sich in einem Hustenanfall auf. Der Wein war kaum besser als Essig, aber selbst Nerim fiel es in diesen Tagen schwer, vernünftigen Wein aufzutreiben.
»Nun, er ist der Wiedergeborene Drache«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, und wischte sich den Wein vom Kinn. Einen Augenblick lang sah er Rand an einem großen dunklen Tisch essen. »Was muss man da sonst noch wissen?« Selucia füllte geschickt seinen Becher nach.
»Eine ganze Menge, Spielzeug. Zum einen muss er vor Tarmon Gai'don vor dem Kristallthron knien. Die Prophezeiungen sind da eindeutig, aber ich habe nicht einmal in Erfahrung bringen können, wo er steckt. Es wird noch dringender, wenn er derjenige ist, der das Horn von Valere geblasen hat, wie ich vermute.«
»Das Horn von Valere?«, sagte er schwach. Was stand bloß in diesen Prophezeiungen? »Man hat es also gefunden?«
»Das muss es wohl, wenn man es geblasen hat, oder?«, meinte sie trocken. »Die Berichte, die ich über den Ort gelesen habe, an dem es geblasen wurde, ein Ort namens Falme, sind sehr beunruhigend. Sich denjenigen zu sichern, der das Horn geblasen hat, ob Mann oder Frau, ist vielleicht genauso wichtig, wie den Wiedergeborenen Drachen selbst zu sichern. Wollt Ihr nun Steine spielen oder nicht, Spielzeug?«
Er setzte seinen Stein, aber er war so erschüttert, dass die Farben wirbelten und verblassten, ohne ein Bild zu formen. Er war kaum dazu fähig, aus einer offensichtlichen Gewinnposition noch ein Unentschieden zu erreichen.
»Ihr habt am Ende sehr schlecht gespielt«, murmelte Tuon und betrachtete das Spielbrett nachdenklich, auf dem die Kontrolle über die schwarzen und weißen Steine gleichmäßig verteilt war. Er konnte förmlich sehen , wie sie zu überlegen begann, worüber sie gesprochen hatten, als er anfing, schlecht zu spielen. Eine Unterhaltung mit ihr war wie der Gang über die nachgebende Kante eines Abgrundes. Ein falscher Schritt, und Mat Cauthon war so tot wie das Hammelfleisch vom letzten Jahr. Aber er musste über diese Kante gehen. Ihm blieb keine verdammte Wahl. Oh, in gewisser Weise genoss er es sogar. Je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto häufiger hatte er Gelegenheit, dieses herzförmige Gesicht seiner Erinnerung anzuvertrauen, es sich so genau einzuprägen, dass er sie vor sich sehen konnte, wenn er bloß die Augen schloss. Aber da war immer der Fehltritt, der auf ihn wartete. Auch den konnte er fast sehen.
Nachdem er ihr einen kleinen Strauß Seidenblumen gegeben hatte, verzichtete er mehrere Tage lang auf Geschenke, und er glaubte einen Hauch von Enttäuschung zu entdecken, als er mit leeren Händen ankam. Dann, vier Tage nach dem Aufbruch aus Jurador, gerade als die Sonne über den Horizont in einen fast wolkenlosen Himmel aufstieg, schaffte er sie und Selucia aus dem purpurfarbenen Wagen. Nun, er wollte nur Tuon, aber Selucia hätte genauso gut ihr Schatten sein können, wenn es darum ging, sie zu trennen. Er hatte das einmal kommentiert und einen Scherz daraus gemacht, und beide Frauen hatten sich einfach weiter unterhalten, als hätte er in die Luft gesprochen. Es war gut, dass er wusste, dass Tuon über einen Scherz lachen konnte, denn manchmal sah es so aus, als hätte sie nicht den geringsten Sinn für Humor. Selucia hatte sich in einen grünen Wollumhang gehüllt, dessen Kapuze ihr rotes Kopftuch fast verbarg. Sie musterte ihn misstrauisch, aber das tat sie fast immer. Tuon verzichtete grundsätzlich auf ein Kopftuch, aber mit hochgeschlagener Kapuze war die Kürze ihrer schwarzen Haare nicht ganz so offensichtlich.
»Bedeckt Eure Augen, mein Juwel«, sagte er. »Ich habe eine Überraschung für Euch.«
»Ich mag Überraschungen«, erwiderte sie und legte die Hände auf die großen Augen. Einen Augenblick lang lächelte sie erwartungsvoll, aber nur einen Augenblick lang. »Einige Überraschungen, Spielzeug.« Das klang nach einer Warnung. Selucia stand direkt neben ihr, und obwohl die vollbusige Frau völlig entspannt erschien, sagte ihm etwas, dass sie so angespannt war wie eine sprungbereite Katze. Sie mochte vermutlich keine Überraschungen.
»Wartet hier«, sagte er und eilte um den Wagen. Bei seiner Rückkehr führte er Pips und die Rasierklinge, beide fertig gesattelt. Die Stute schritt lebhaft einher, die Aussicht auf einen Ausflug schien ihr zu gefallen.
»Jetzt könnt Ihr hinsehen. Ich dachte mir, vielleicht habt Ihr ja Lust auf einen Ausritt.« Sie hatten Stunden; dem Betrieb zwischen den Wagen nach zu urteilen, hätte der Zirkus verlassen sein können. Nur bei einer Hand voll Wagen stieg Rauch aus den Schornsteinen. »Sie gehört Euch«, fügte er hinzu und erstarrte, als ihm die Worte fast im Hals stecken blieben.
Diesmal gab es nicht den geringsten Zweifel. Er hatte gesagt, dass das Pferd ihr gehörte, und plötzlich klapperten die Würfel in seinem Kopf nicht mehr so laut. Es war nicht so, als wären sie langsamer geworden; da war er sich sicher.
Nein, dort rollten mehrere Sätze. Einer war verstummt, als er seine Übereinkunft mit Aludra getroffen hatte, und ein weiterer, als er Tuon gesagt hatte, dass das Pferd für sie war. Allein für sich genommen war das merkwürdig — wieso sollte es schicksalhaft für ihn sein, wenn er ihr ein Pferd schenkte? —, aber beim Licht, es war schlimm genug gewesen, sich über einen Würfelsatz sorgen zu müssen, der ihn warnte. Wie viele Sätze polterten noch immer in seinem Kopf herum? Wie viele schicksalhafte Augenblicke warteten denn noch darauf, über ihn hereinzubrechen?
Tuon ging sofort zu der Rasierklinge, lächelte die ganze Zeit, während sie das Tier so genau untersuchte, wie er es getan hatte. Schließlich richtete sie in ihrer Freizeit Pferde ab. Pferde und Dama ne , mochte das Licht ihm beistehen! Ihm wurde bewusst, dass Selucia ihn musterte; ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Wegen des Pferdes, oder weil er so steif wie ein Pfosten dastand?
»Man nennt diese Rasse Rasierklingen«, sagte er und tätschelte Pips' Nase. Der Wallach hatte viel Auslauf bekommen, aber die Aufregung der Rasierklinge schien ihn angesteckt zu haben. »Blutgeborene Domani bevorzugen Rasierklingen, und es ist unwahrscheinlich, dass Ihr außerhalb von Arad Doman je wieder eine zu Gesicht bekommt. Wie wollt Ihr sie nennen?«
»Es bringt Unglück, einem Pferd einen Namen zu geben, bevor man es geritten hat«, erwiderte Tuon und nahm die Zügel. Sie strahlte immer noch. Ihre großen Augen leuchteten. »Sie ist ein prächtiges Tier, Spielzeug. Ein wunderbares Geschenk. Entweder habt Ihr ein gutes Auge, oder Ihr habt großes Glück gehabt.«