»Ich habe ein gutes Auge, mein Juwel«, sagte er misstrauisch. Sie schien sich mehr zu freuen, als die Rasierklinge eigentlich rechtfertigte.
»Wenn Ihr das sagt. Wo ist Selucias Pferd?«
Ach ja. Es war den Versuch wert gewesen. Ein kluger Mann sicherte sich gegen den Verlust einer Wette ab, und so ließ ein scharfer Pfiff Metwyn mit einem gesattelten Schecken angelaufen kommen. Mat ignorierte sein breites Grinsen. Der cairhienische Rotwaffenmann war davon überzeugt gewesen, dass er nicht damit durchkommen würde, Selucia zurückzulassen, aber es war nicht nötig, deswegen so blöd zu grinsen. Mat hielt den gescheckten Wallach mit seinen zehn Jahren für sanft genug für Selucia — seiner Erfahrung nach waren Zofen selten mehr als passable Reiterinnen —, aber die Frau kontrollierte das Tier genauso gründlich wie Tuon. Und als sie fertig war, schenkte sie Mat einen Blick, der eindeutig besagte, dass sie das Tier reiten würde, um keinen Ärger zu machen, es aber für entschieden mangelhaft hielt. Frauen konnten viel in einen einzigen Blick hineinpacken.
Sobald sie das Feld verlassen hatten, auf dem der Zirkus lagerte, ließ Tuon die Rasierklinge ein Stück im Schritt gehen, dann ließ sie sie traben und dann galoppieren. Die Straße bestand hier aus festem gelben Lehm, aus dem hier und da noch uralte Pflastersteine ragten. Aber das war kein Problem für ein ordentlich beschlagenes Pferd, und Mat hatte die Eisen der Rasierklinge vorher genau überprüft. Er hielt Pips hauptsächlich an ihrer Seite, um sich an ihrem Vergnügen zu erfreuen. Wenn Tuon sich vergnügte, war der strenge Richter vergessen, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich unverfälschte Freude. Nicht dass das Beobachten einfach war, da Selucia den Schecken zwischen ihnen lenkte. Die blonde Frau war eine formidable Anstandsdame, und ihren Seitenblicken und dem gelegentlichen schmalen Lächeln nach zu urteilen, genoss sie es, ihn zu frustrieren.
Am Anfang hatten sie abgesehen von ein paar Bauernkarren die Straße für sich, aber nach einer Weile erschien vor ihnen eine Kesselflickerkarawane, eine Reihe grellbunt bemalter Wagen, die auf der anderen Straßenseite langsam in Richtung Süden rollten und die von riesigen Hunden begleitet wurden. Diese Hunde waren der einzige Schutz, den Kesselflicker hatten. Der Kutscher des Führungswagens, ein Ding, das so rot wie Lucas Mantel war, mit gelben Rändern und schrecklichen gelbgrünen Rädern, stand halb auf, um zu Mat herüberzusehen, dann setzte er sich wieder und sagte etwas zu der Frau an seiner Seite, zweifellos durch die Anwesenheit der beiden Frauen an Mats Seite beruhigt. Kesselflicker waren notwendigerweise ein vorsichtiger Haufen. Die ganze Karawane würde vor einem einzigen Mann die Flucht ergreifen, falls sie ihn für eine Bedrohung hielten.
Mat nickte dem Burschen zu, als die Wagen sie passierten.
Der hochkragige Mantel des schlanken grauhaarigen Kutschers war so grün wie die Räder seines Wagens, und das Kleid seiner Frau wies Streifen in verschiedenen Blautönen auf, von denen die meisten hell genug waren, um zu den Zirkusartisten zu passen. Der grauhaarige Mann hob die Hand zu einem Gruß…
Und Tuon drehte unvermittelt die Rasierklinge und galoppierte mit flatterndem Umhang zwischen die Bäume. Augenblicklich jagte Selucia hinter ihr her. Mat riss sich den Hut herunter, um ihn nicht zu verlieren, wendete Pips und folgte ihnen. Rufe ertönten bei den Wagen, aber er schenkte ihnen keine Beachtung. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Tuon gerichtet. Er wünschte, er wüsste, was sie vorhatte. Keine Flucht, da war er sich sicher. Vermutlich wollte sie ihn nur dazu bringen, sich die Haare zu raufen. Falls das zutraf, hatte sie ziemlichen Erfolg.
Pips holte den Schecken schnell ein und ließ die finster dreinblickende und ihr Tier mit den Zügeln antreibende Selucia hinter sich, aber Tuon und ihre Rasierklinge behielten die Führung, während das gewellte Land langsam anstieg. Überraschte Vogelschwärme stiegen zwischen den Hufen auf, Scharen grauer Tauben und braun gesprenkelter Wachteln, manchmal auch braune Waldhühner. Die Stute brauchte sich bloß davor zu erschrecken, und die Katastrophe war da. Das am besten ausgebildete Reittier konnte auf die Hinterbeine steigen und stürzen, wenn ein Vogel unter seinem Huf aufflog. Und was noch viel schlimmer war, Tuon ritt wie eine Verrückte, wurde nie langsamer, wich nur aus, wenn das Unterholz zu dicht war, setzte über von Stürmen entwurzelte Bäume hinweg, als wüsste sie, was auf der anderen Seite lag. Nun, er musste selbst wie ein Verrückter reiten, um mitzuhalten, auch wenn er jedes Mal zusammenzuckte, wenn er Pips über einen Baumstumpf springen ließ. Einige davon waren fast so dick, wie er groß war. Er grub die Stiefelfersen in die Flanken des Wallachs, drängte ihn zu größerer Geschwindigkeit, obwohl er wusste, dass Pips so schnell wie noch nie zuvor lief. Er hatte mit der verdammten Rasierklinge eine zu gute Wahl getroffen. Sie rasten weiter durch den Wald.
So abrupt sie ihren verrückten Galopp begonnen hatte, hörte sie wieder damit auf, über eine Meile von der Straße entfernt. Hier waren die Bäume alt und standen weit auseinander, schwarze, vierzig Schritte hohe Kiefern und massige Eichen mit Ästen, die sich nach unten bis zum Boden durchbogen, bevor sie wieder in die Höhe stiegen und die man mühelos hätte in der Mitte durchsägen und zu Tischen verarbeiten können, an denen bequem ein Dutzend Männer hätten sitzen können. Dicke Schlingpflanzen hüllten zur Hälfte im Boden vergrabene Felsen ein, aber davon abgesehen gab es nur wenige Gewächse. Eichen dieser Größe töteten sämtliches unter ihnen sprießende Unterholz.
»Euer Tier ist besser, als es aussieht«, sagte die närrische Frau und tätschelte ihrer Stute den Hals, als er sie erreichte. Oh, sie war die personifizierte Unschuld, einfach nur auf einem Vergnügungsritt. »Vielleicht habt Ihr ja doch ein gutes Auge.« Da ihr die Kapuze heruntergerutscht war, konnte man ihr kurzes Haar sehen, das wie schwarze Seide funkelte. Er unterdrückte das Verlangen, es zu streicheln.
»Egal wie gut mein Auge ist«, knurrte er und stülpte sich den Hut auf. Ihm war klar, dass er sanft sein musste, aber er hätte die Grobheit nicht einmal mit einer Feile aus seiner Stimme entfernen können. »Reitet Ihr immer wie eine mondsüchtige Närrin? Ihr hättet der Stute den Hals brechen können, bevor sie überhaupt einen Namen hat. Schlimmer noch, Ihr hättet Euch selbst den Hals brechen können. Ich habe versprochen, Euch sicher nach Hause zu bringen, und das habe ich auch vor. Wenn Ihr Euch bei jedem Ausritt umbringen wollt, dann lasse ich Euch nicht mehr reiten.« Er wünschte sich, er hätte sich die letzten Worte gespart, sobald sie seinen Mund verlassen hatten. Ein Mann hätte eine solche Drohung vielleicht als Witz abgetan, falls man Glück hatte, aber eine Frau… Jetzt konnte er bloß auf die Explosion warten. Er rechnete damit, dass Aludras Nachtblumen im Vergleich dazu ein schwaches Licht sein würden.
Sie setzte die Kapuze wieder auf. Dann musterte sie ihn, legte den Kopf erst auf die eine und dann auf die andere Seite. Schließlich nickte sie nachdenklich. »Ich nenne sie Akein. Das heißt ›Schwalbe‹.«
Mat blinzelte. Das war's? Kein Wutanfall? »Ich weiß. Ein guter Name. Er passt zu ihr.« Was führte sie jetzt wieder im Schilde? Diese Frau tat oder sagte aber auch nie das, was er erwartete.
»Was ist das für ein Ort, Spielzeug?«, sagte sie und betrachtete stirnrunzelnd die Bäume. »Oder sollte ich besser sagen, was war das? Wisst Ihr es?«
Was meinte sie damit, was sollte das für ein Ort gewesen sein? Es war ein verdammter Wald, das war alles. Aber plötzlich sah das, was ihm wie ein großer, von Schlingpflanzen überwucherter Felsen vorgekommen war, wie ein riesiger Steinkopf aus, der leicht schräg stand. Scheinbar ein Frauenkopf; diese glatten Vorsprünge sollten vermutlich Edelsteine im Haar darstellen. Die Statue, zu der er gehörte, musste gewaltig gewesen sein. Von dem Ding war eine volle Spanne zu sehen, und doch ragten nur ihre Augen und der Rest des Kopfes aus dem Boden. Und dieser lange weiße Stein, über den eine Eichenwurzel wuchs, war Teil einer Säule. Überall in ihrem Umkreis fielen ihm jetzt Säulenstücke und riesige bearbeitete Steine auf, die vor langer Zeit offensichtlich Teil einer großflächigen Anordnung gewesen und nun zur Hälfte begraben waren; da lag auch ein Teil eines Steinschwertes, der zwei Spannen maß. Ruinen von Städten und Monumenten konnte man an vielen Orten finden, und selbst unter den Aes Sedai gab es nur wenige, die eine Vorstellung davon hatten, was sie einst dargestellt hatten.