In der Hauptstraße des Zirkus drängten sich Leute aus der Stadt, Männer in grober Wolle oder unauffälligen Mänteln aus besseren Materialien, die nur an den Ärmeln geringe Verzierungen aufwiesen; Frauen in schlichten hochkragigen Kleidern unter langen weißen Schürzen oder hochkragigen Kleidern mit Stickereien auf der Brust, von denen viele Spitzenhauben trugen. Überall schössen Kinder umher, entkamen ihren Eltern und wurden wieder eingefangen. Alle bestaunten Miyoras Leoparden oder Latelles Bären, genau wie die Jongleure oder Balat und Abar, die Feuerschlucker. Mat blieb nicht einmal für einen kurzen Blick auf die Akrobatinnen stehen, sondern bahnte sich mit Tuon am Arm einen Weg durch die Menge. Dafür hatte er gesorgt, indem er einfach ihre Hand auf sein linkes Handgelenk gelegt hatte. Sie hatte kurz gezögert und dann knapp genickt, eine Königin, die einem Bauern die Freiheit gestattete, die er sich herausgenommen hatte. Thom hatte seinen Arm Selucia angeboten, aber sie blieb hinter der linken Schulter ihrer Herrin. Wenigstens versuchte sie nicht, sich dazwischenzudrängen.
Luca stand im scharlachroten Mantel und Umhang am Eingang unter dem großen Banner und sah zu, wie die Münzen in den Glaskrug klirrten und dann noch einmal klirrten, wenn sie in das Kästchen geworfen wurden. Er trug ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Warteschlange war fast hundert Schritte lang, und weitere Menschen kamen aus der Stadt und gingen in Richtung Zirkus. »Ich könnte hier in zwei oder drei Tagen ein schönes Sümmchen einnehmen«, sagte er zu Mat.
»Schließlich ist dieser Ort real, und wir sind weit genug weg von…« Sein Lächeln erlosch wie eine ausgepustete Kerze.
»Ihr glaubt doch auch, dass wir weit genug weg sind, oder?«
Mat seufzte. Bei Valan Luca würde Gold immer die Furcht besiegen.
Er konnte den Umhang nicht zuhalten mit Tuon am Arm, also flatterte er in der steifen Brise, aber das war ganz gut so. Die Torwächter, die dort in einer unregelmäßigen Reihe herumlungerten, musterten sie neugierig, und einer machte eine unbeholfene Verbeugung. Seide und Spitze hatte diese Wirkung auf Waffenmänner vom Land, und nichts anderes waren diese Männer, ganz egal, wie sehr sie die Helme auch poliert hatten. Die meisten stützten sich auf ihre Hellebarden wie Bauern auf ihre Schaufeln. Aber nach ein paar Schritten blieb Thom stehen, und Mat war gezwungen, ebenfalls stehen zu bleiben. Schließlich hatte er keine Ahnung, wo sich Der Weiße Ring befand.
»Eine große Wachmannschaft, Hauptmann«, sagte Thom und ließ Sorge aus seiner Stimme heraushören. »Gibt es Gesetzlose in der Gegend?«
»Hier gibt es keine Gesetzlosen«, sagte ein grauhaariger Wachmann schroff. Die wulstige weiße Narbe, die sich schräg durch sein kantiges Gesicht zog, verlieh ihm in Kombination mit den zusammengekniffenen Augen ein schurkisches Aussehen. Er gehörte nicht zu den Aufstützern, und er hielt seine Hellebarde, als wüsste er, wie er damit umgehen musste. »Die Seanchaner haben die wenigen erledigt, die wir nicht fangen konnten. Geh jetzt weiter, alter Bursche. Du blockierst den Weg.« Es waren weder ein Wagen noch ein Karren in Sicht, und die wenigen Leute, die die Stadt zu Fuß verließen, hatten genügend Platz. Der Torbogen war breit genug für zwei Wagen, die nebeneinander herfuhren, auch wenn es etwas eng geworden wäre.
»Die Seanchaner haben gesagt, wir würden nicht genug Wächter aufstellen«, meinte ein stämmiger Kerl in Mats Alter fröhlich, »und Lord Nathin hört genau zu, wenn die Seanchaner etwas sagen.«
Der grauhaarige Mann hieb ihm die gepanzerte Hand hart genug auf den Helm, dass er stolperte. »Du passt bei Fremden auf, was du sagst, Keilar«, knurrte der ältere Mann, »oder du findest dich im Handumdrehen hinter deinem Pflug wieder. Mein Lord«, fügte er an Mat gewandt zu, »Ihr solltet Euren Diener zur Ordnung rufen, bevor er sich Ärger einhandelt.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Hauptmann«, sagte Thom demütig und senkte den Kopf, das Abbild eines gerügten Dieners. »Ich wolle niemandem zu nahe treten. Verzeiht.«
»Er hätte auch dich geschlagen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre«, sagte Mat zu ihm, als er sie eingeholt hatte. Thom hinkte sichtbar. Er musste müde sein, wenn er es sich so sehr anmerken ließ. »Beinahe hätte er es trotzdem getan. Und was hast du erfahren, das dieses Risiko wert gewesen wäre?«
»Ich hätte nicht gefragt, wenn du in diesem Mantel nicht dabei gewesen wärst.« Thom kicherte, während sie weiter in die Stadt hineingingen. »Die erste Lektion besteht darin, dass man weiß, welche Fragen man stellen muss. Die zweite, und die ist genauso wichtig, ist, wann und wie man fragt. Ich habe erfahren, dass es keine Straßenräuber gibt, was immer gut zu wissen ist, obwohl ich nur von wenigen Banden gehört habe, die zahlreich genug wären, um etwas so Großes wie den Wanderzirkus anzugreifen. Ich habe erfahren, dass Nathin unter der Fuchtel der Seanchaner steht. Entweder gehorcht er mit diesen zusätzlichen Wächtern ihrem Befehl, oder er hält ihre Vorschläge für Befehle. Und am wichtigsten, ich habe erfahren, dass Nathins Waffenmänner nichts gegen die Seanchaner haben.«
Mat hob eine Braue.
»Sie haben nicht ausgespuckt, als sie den Namen sagten, Mat. Sie haben keine Grimasse geschnitten oder geknurrt. Sie werden nicht gegen die Seanchaner kämpfen, nicht, solange Nathin es ihnen nicht befiehlt, und das wird er nicht tun.« Thom atmete schwer aus. »Es ist sehr seltsam. Mir ist das Gleiche überall aufgefallen, von Ebou Dar bis hier. Diese Fremden kommen, übernehmen die Herrschaft, setzen ihre Gesetze durch, schnappen sich die Frauen, die die Macht lenken können, und auch wenn die Adligen sie verabscheuen, beim Volk scheint das nur sehr selten vorzukommen. Solange sie jedenfalls keine Frau oder Verwandte hatten, denen man den Kragen umgelegt hat. Sehr seltsam, und es lässt Böses ahnen, was ihre Vertreibung angeht. Andererseits, Altara ist Altara. Ich würde darauf wetten, dass sie in Amadicia und Tarabon nicht so warmherzig empfangen werden.« Er schüttelte den Kopf.
»Wir sollten es jedenfalls hoffen, denn sonst…« Er führte den Satz nicht zu Ende, aber man konnte sich leicht vorstellen, was er meinte.
Mat warf Tuon einen Blick zu. Was fühlte sie wohl, wenn sie Thom so über ihr Volk sprechen hörte? Sie sagte nichts, sondern ging nur an seiner Seite und betrachtete aus dem Schutz der Kapuze alles neugierig.
Die breiten gepflasterten Straßen von Maderin wurden von zwei- oder dreistöckigen, größtenteils aus Ziegeln erbauten Gebäuden mit Schindeldächern gesäumt. Läden, deren Schilder im Wind baumelten, waren zwischen Ställe und die Häuser der Reichen mit ihren großen Lampen über den Torbögen sowie die Unterkünfte von Ärmeren — wenn man nach der Wäsche urteilte, die in fast jedem Fenster hing — gequetscht. Pferdekarren und Handkarren beladen mit Ballen oder Kisten oder Fässern schoben sich durch die mäßig dichte Menge aus Männern und Frauen, die flinken Schritts dahineilten. Kinder spielten Fangen.
Tuon studierte alles mit gleichmäßigem Interesse. Ein Bursche, der einen Schleifstein auf Rädern schob und rief, dass er Scheren und Messer so schärfte, dass man damit Wünsche schneiden konnte, erregte genauso sehr ihre Aufmerksamkeit wie eine schlanke, hartgesichtige Frau in Lederhosen, die zwei Schwerter auf den Rücken geschnallt trug. Zweifellos die Leibwächterin eines Kaufmanns oder vielleicht auch eine Jägerin des Horns, auf jeden Fall aber eine Seltenheit. Einer vollbusigen Domani in einem eng anliegenden, fast durchsichtigen roten Kleid, die von zwei kräftigen Leibwächtern in Schuppenrüstungen begleitet wurde, schenkte sie die gleiche Aufmerksamkeit wie einem dürren einäugigem Burschen in zerschlissener Wollkleidung, der aus seinem Bauchladen Nadeln und Schleifen verkaufte. In Jurador war Mat diese Art von Neugier an ihr gar nicht aufgefallen, aber in Jurador hatte sie bloß Seide finden wollen. Hier schien sie alles, was sie sah, ihrem Gedächtnis anzuvertrauen wollen.