»Ach, sie stehlen gelegentlich ein Huhn, General«, sagte Neald mit einem Lachen und zog an seinem dünnen, gewachsten Schnurrbart. »Aber ich würde sie nicht als große Diebe bezeichnen.« Er hatte das Erstaunen der Seanchaner über das Wegetor, das sie alle hergebracht hatte, ausgesprochen genossen, und er posierte noch immer hochmütig, brachte es fertig herumzustolzieren, obwohl er doch im Sattel saß. Es fiel schwer, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass er noch immer auf dem Hof seines Vaters arbeiten würde und vermutlich in ein, zwei Jahren über die Heirat mit einer Nachbarstochter nachgedacht hätte, hätte er sich nicht den schwarzen Mantel verdient. »Ordentliche Diebstähle erfordern Mut, und so etwas haben Kesselflicker nicht.«
Balwer, der in seinen dunklen Umhang gehüllt zusammengekrümmt auf seinem Pferd saß, zog eine Grimasse; vielleicht sollte es auch ein Lächeln sein. Das war bei dem vertrockneten kleinen Mann schwer zu sagen, solange Perrin nicht seinen Geruch auffing. Die beiden begleiteten ihn beinahe aus dem gleichen Grund, aus dem Khirgan und Mishima von einer grauhaarigen Sul’dam und ihrer Damane begleitet wurden, deren dunkles Haar graue Strähnen aufwies: angeblich um die Anzahl auszugleichen. Für die Seanchaner zählten Sul’dam und Damane als eine Person, wenn sie durch die mehrgliederige Metallleine verbunden wurden. Perrin hätte es gereicht, allein mit Neald zu kommen, oder höchstens mit Neald und Balwer, doch Tallanvor hatte Recht mit den Seanchanern und ihrem Beharren auf dem Protokoll behalten.
Die Gespräche hatten sich drei Tage lang hingezogen, und auch wenn sie einige Zeit mit der Frage verbracht hatten, ob man Perrins Plan folgen oder ihn in das einarbeiten sollte, was sich Tylee einfallen lassen würde — wobei sie am Ende nachgab, weil ihr nichts Besseres einfiel —, hatte man einen guten Teil davon mit der Diskussion darüber verschwendet, wie viele Leute jede Seite mit hierher nehmen sollte. Es hatte bei beiden dieselbe Zahl sein müssen, und die Bannergeneralin hatte einhundert Soldaten und zwei Damane mitnehmen wollen. Um der Ehre willen. Sie war erstaunt gewesen, dass er überhaupt dazu bereit war, mit weniger zu kommen, und hatte es auch erst dann akzeptieren wollen, nachdem er sie darauf hingewiesen hatte, dass jeder von Failes Leuten in seinem oder ihrem Land ein Adliger war. Er hatte das Gefühl, dass sie glaubte, hereingelegt worden zu sein, weil sie die Ränge ihrer Eskorte nicht mit entsprechenden Leuten aufstocken konnte. Diese Seanchaner waren schon ein merkwürdiges Volk. Oh, sie repräsentierten auf jeden Fall verschiedene Seiten, da bestand kein Zweifel. Diese Allianz war auf Zeit begrenzt, ganz zu schweigen davon, dass sie sehr zerbrechlich war, und die Bannergeneralin war sich dessen genauso sehr bewusst wie er.
»Sie haben mir zweimal Unterkunft gewährt, als ich sie brauchte, mir und meinen Freunden, und haben dafür nichts haben wollen«, sagte Perrin bedächtig. »Aber das, woran ich mich im Zusammenhang mit ihnen am deutlichsten erinnere, war, als die Trollocs Emondsfelde umzingelten. Die Tuatha’an standen mit auf den Rücken geschnallten Kindern auf dem Dorfgrün, den wenigen, die von ihren Kindern überlebt hatten und den unseren. Sie wollten nicht kämpfen — das ist nicht ihre Lebensart —, aber sie waren zu dem Versuch bereit, die Kinder in Sicherheit zu bringen, falls uns die Trollocs überrannt hätten. Unsere Kinder zu tragen hätte sie behindert, eine erfolgreiche Flucht noch unwahrscheinlicher gemacht, als sie ohnehin schon war, aber sie haben um diese Aufgabe gebeten.« Neald hustete peinlich berührt und schaute zur Seite. Seine Wangen röteten sich. Was auch immer er bereits alles gesehen und getan hatte, er war noch ung, gerade mal siebzehn. Diesmal war Balwers schmales Lächeln eindeutig.
»Ich glaube, Euer Leben gäbe eine gute Geschichte ab«, sagte die Generalin, und ihre Miene lud ihn ein, noch mehr zu erzählen.
»Ich wünschte mir, mein Leben wäre ganz normal«, sagte er zu ihr. Ein Mann, der nur Frieden wollte, hatte nichts in Geschichten verloren.
»Eines Tages würde ich gern einige dieser Trollocs sehen, von denen ich immer höre«, sagte Mishima, als die Pause zu lange wurde. In seinem Geruch lag ein Hauch Belustigung, aber er strich auch über den Schwertgriff, möglicherweise unbewusst.
»Nein, würdet Ihr nicht«, sagte Perrin zu ihm. »Früher oder später werdet Ihr Eure Chance bekommen, aber es wird Euch nicht gefallen.« Nach einem Moment nickte der narbige Mann ernst, und die Belustigung verschwand. Er musste endlich daran glauben, dass Trollocs und Myrddraal mehr waren als die Spukgeschichten von Reisenden. Falls er noch Zweifel hatte, es näherte sich der Zeitpunkt, der seine Zweifel für immer auslöschen würde.
Sie betraten Almizar, und als sie auf einen schmalen Karrenweg zum nördlichen Stadtende einbogen, verdrückte sich Balwer. Medore begleitete ihn. Sie war eine hochgewachsene Frau, fast so dunkel wie Tylee, aber mit dunkelblauen Augen. Sie trug dunkle Hosen und einen Männermantel mit rot gestreiften Ärmeln, sowie ein Schwert an ihrer Hüfte. Balwer ritt zusammengesunken, ein Vogel, der unsicher auf einem Sattel hockte, Medore hoch aufgerichtet und stolz, jeder Fuß die Tochter eines Hochlords und Anführerin von Failes Anhängern. Allerdings folgte sie Balwer, statt an seiner Seite zu reiten. Anscheinend schienen Failes Anhänger es akzeptiert zu haben, von dem umständlichen kleinen Mann Befehle zu bekommen. Es machte sie zu einem viel kleineren Ärgernis, als sie einst gewesen waren; tatsächlich machte es sie sogar auf mancherlei Weise nützlich, was Perrin für unmöglich gehalten hätte. Die Bannergeneralin hatte nichts gegen ihr Gehen einzuwenden, auch wenn sie ihnen nachdenklich hinterherschaute.
»Nett von der Lady, die Freundin eines Dieners zu besuchen«, meinte sie nachdenklich. Das war die Geschichte, die Balwer verbreitet hatte, dass er eine Frau gekannt hatte, die in Almizar lebte, und Medore wollte sie besuchen, falls sie noch am Leben war.
»Medore ist eine freundliche Frau«, erwiderte Perrin. »So sind unsere Bräuche, nett zu unserer Dienerschaft zu sein.« Tylee warf ihm einen Blick zu, nur einen, aber er rief sich ins Gedächtnis zurück, sie nicht zu unterschätzen. Es war zu schade, dass er nichts über seanchanische Bräuche wusste, oder sie hätten sich eine bessere Geschichte einfallen lassen. Aber Balwer war wild darauf gewesen — soweit er dazu fähig war-, diese Gelegenheit zu nutzen, um Informationen darüber zu sammeln, was in Amadicia unter den Seanchanern vorging. Perrin konnte dafür kaum Interesse aufbringen. Im Moment war nur Faile wichtig. Später konnte er sich dann über andere Dinge Sorgen machen.
Direkt nördlich von Almizar hatte man die Steinmauern, die sieben oder acht Felder aufgeteilt hatten, entfernt, um einen großen Platz zu schaffen, dessen Erde anscheinend gründlich von Eggen gepflügt worden war. Eine große seltsame Kreatur, auf deren Rücken zwei mit Kapuzen verhüllte Leute saßen, rannte dort unbeholfen auf zwei Beinen entlang, die für ihre Größe spindeldürr erschienen. Aber eigentlich traf es »seltsam« nicht einmal annähernd. Lederhäutig und grau war das Ding größer als ein Pferd, wenn man den angen, schlangenhaften Hals und den dünnen, noch längeren Schwanz nicht mitzählte, den sie steif ausgestreckt hatte, m Lauf schlug sie mit Schwingen, die gerippt wie die einer :ledermaus und so lang wie die meisten Flussschiffe waren, ’errin hatte solche Tiere bereits zuvor gesehen, aber nur in der Luft und aus der Ferne. Tylee hatte ihm gesagt, dass man sie Raken nannte. Die Kreatur erhob sich langsam und schwerfällig in die Luft und passierte gerade eben die Wipfel eines beschnittenen Baumbestandes am Ende des Feldes. Er legte den Kopf in den Nacken, um dem Raken nachzusehen, der langsam in den Himmel stieg, während die Unbeholfenheit beim Flug verschwand. Das wäre schon eine tolle Sache, auf einem von ihnen zu fliegen. Er unterdrückte den Gedanken, beschämt und wütend, dass er sich ablenken ließ.