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»Ist Adam –«

»Kyle war mein jüngerer Bruder. Er starb, als ich dreizehn war.«

»Oh … das tut mir leid, Travis.«

»Ist schon gut.«

»Nein«, beharrte sie. »Ist es nicht. Ich wusste nicht …«

»Ich habe es dir nicht erzählt«

»Schatz, das ist wirklich …«

»Ist okay. Es ist schon lange her.«

»Willst du darüber sprechen?«

Wollte ich nicht. Andererseits hatte ich mich für den Rest meines Lebens dieser Frau verschrieben und war mir bewusst, dass sie deshalb ein bestimmtes Anrecht besaß, und Jodie musste von Kyle erfahren.

»Er war zehn«, hörte ich mich sagen, und es hätte genauso gut die Stimme eines anderen sein können, die durch ein Rohr tief aus dem Erdinneren an mein Ohr drang. »Wir lebten damals in Eastport, einem beschaulichen Küstenvorort von Annapolis direkt an der Chesapeake Bay mit Leuchtturm, idyllisch kleiner Zugbrücke und allem Drum und Dran. Rückblickend kommt es mir vor wie ein Foto von Jean Guichard. Aber zum Aufwachsen war es ein wunderbarer Ort.«

Draußen wälzte sich der Verkehr vor und zurück, wie Ebbe und Flut. Das Licht der Straßenlaternen schillerte in den Regentropfen an den Fensterscheiben.

»Hinter unserem Haus verlief ein Fluss zur Bucht. Im Sommer schwammen wir immer darin.«

Ich hielt inne und ließ melancholisch die Gedanken schweifen, und Jodie umarmte mich inniger. Auf dem Schreibtisch lag ein Päckchen Marlboro. Ich stand auf und nahm es zusammen mit einem Briefchen Streichhölzer mit vors Fenster. Das widerspenstige Ding klemmte, weshalb ich es erst mit etwas Verzögerung öffnen konnte; die Luft, eine kühle Mittsommerbrise wehte in den stickigen Raum. Halb aus dem Fenster gelehnt, inhalierte ich tief. Jodie hatte verzweifelt versucht, mir das Rauchen auszureden, und maßregelte mich zu jeder Gelegenheit. In jener Nacht aber machte sie keine Bemerkung dazu.

»Damals im Sommer ertrank Kyle im Fluss«, schilderte ich kurz und bündig. Irgendwie zwischen dem aus dem Bett steigen und dem Zigaretten anzünden, hatte ich mich dazu entschlossen, Jodie nicht jedes Detail zu erzählen – was ich an jenem Tag getan beziehungsweise unterlassen hatte. Es war unnötig, zumal ich sowieso nicht glaubte, es erläutern zu können. (Nur einmal im Leben hatte ich es erzählt, und zwar Detective Wren, und das genügte voll und ganz. Mit dreizehn war es mir laut über die Lippen gekommen, danach nie wieder.)

Leise hauchte Jodie: »Nein.«

Ich warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster und verriegelte es wieder. So sehr ich fror, so taub fühlte sich mein Gesicht an. Da bemerkte ich, dass ich geweint hatte, und die Tränen brannten auf meinen Wangen. Ich wischte sie weg, tappte zurück ans Bett und schlüpfte unter die Decken.

»Jetzt weißt du es«, schloss ich einfach, als sei damit alles gesagt.

»Alles okay mit dir?«

»Ja.«

»Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt?«

»Weiß nicht.«

»Du hättest es mir erzählen sollen.«

»Natürlich«, erwiderte ich, obwohl ich ihr kaum zuhörte.

»Falls du je wieder darüber sprechen willst: Ich bin da und höre zu.«

»Danke, aber wirklich, mir geht es gut.«

»Denk einfach daran, Baby.«

»Werde ich.«

»Mein Baby.«

»Ja.«

Und das war alles, was ich Jodie je darüber erzählt hatte.

Jodie bereitete Tacos und mexikanischen Reis zu. Während ich den Tisch deckte, legte ich eine CD von Eric Alexander ein und öffnete eine Flasche Chateau Ste. Michelle. Obwohl der Handabdruck im Keller nach wie vor wie ein Symbol des Verhängnisses über mir schwebte, wollte ich verhindern, dass meine Frau dachte, ich hätte den Verstand komplett verloren, also zündete ich sogar Kerzen an und setzte meine Feiermiene auf, als wir Platz nahmen. Zu meiner Überraschung war der Abdruck zu einer vagen Sorge ganz hinten in meinem Oberstübchen geschrumpft, als Jodie mitten in der Rekapitulation ihres Nachmittags steckte. Eine Stunde und mehrere Gläser Wein später war ich davon überzeugt, dass ich alles darüber vergessen konnte.

»Hör mal, wir haben oben das perfekte Büro, benutzen es aber im Moment nur als Abstellkammer«, sagte Jodie, legte die Gabel nieder und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. »Wir könnten meinen Laptop dort aufstellen statt auf dem Wohnzimmertisch, und dein Schreibkram ließe sich von dort aus auch leichter organisieren. Außerdem brauche ich einen Platz, wo ich meine Dissertation in Ruhe zu Ende bringen kann, und du willst bestimmt nicht für den Rest deines Lebens auf dem Sofa schreiben, oder?«

Ich hatte wohl auch auf dem Sofa nicht viel geschrieben, aber egal. »Gib mir ein paar Tage, und ich richte uns ein gemütliches Büro ein. Arbeitest du morgen?«

»Ja. Du solltest mal am Campus vorbeischauen. Sie haben dort eine nette Bibliothek.« Sie lächelte unschuldig; eine Sekunde lang erschien sie mir so, wie sie als kleines Mädchen ausgesehen haben mochte. »Wir könnten dort zusammen zu Mittag essen.«

»Wie lange dauern die Winterkurse?«

»Nur ein paar Wochen, aber pass auf.« Sie stellte ihr Weinglas ab. »Ich wollte etwas mit dir besprechen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Schieß los.«

»Im Frühjahr schreiben sie eine Vollzeitstelle aus, und ich spiele mit dem Gedanken, mich zu bewerben.«

»Lehrtätigkeit?«

»Ich weiß, es klingt verrückt, und ich habe auch nicht sechs Jahre lang auf die Promotion hingearbeitet, nur um in den Hörsälen hängenzubleiben.«

»Wenn du aber Doktorin bist … Du wolltest doch in einer Klinik arbeiten.«

»Ich weiß. Ich weiß.« Sie lachte und stützte ihr Kinn mit einer Hand. »Das Lehren bereitet mir großen Spaß. Ich liebe die Kinder. Ich liebe die Studenten.«

Die Unterhaltung näherte sich gefährlich nahe dem Streitthema – Jodies Wunsch, Nachwuchs zu zeugen. Kurz spürte ich Wut auflodern, weil es mir wie ein passiv-aggressiver Versuch vorkam, das leidige Thema erneut zur Sprache zu bringen – Ich liebe Kinder. Ihr aufrichtig zufriedener Gesichtsausdruck aber erstickte das Gefühl im Keim. Ihre Augen funkelten wie Edelsteine im Kerzenlicht.

»Na ja«, sagte ich. »Wenn dir der Sinn danach steht …«

»Du meinst also, du hättest kein Problem damit?«

»Wieso sollte ich ein Problem damit haben?«

»Ich dachte, nachdem ich so lange die Schulbank …«

»Du musst deinem Herzen folgen. Falls du deine Meinung mit der Zeit änderst, kannst du immer noch zurückschwenken und in einem Krankenhaus arbeiten. Rechnest du mit ernsthaften Chancen auf den Posten?«

»Oh ja«, betonte sie beinahe atemlos. »Durchaus.«

»Verdammt«, erwiderte ich, »dann hol ihn dir.«

Wir machten erneut Liebe in dieser Nacht und es war sehr schön, obwohl mir diese ungezügelte Lust wie in der ersten Woche in unserem Haus auf dem Sofa fehlte.

»Was ist los?«, fragte Jodie sofort danach.

»Was meinst du?«

»Du wirkst so abwesend.«

»Klang gerade nicht so, als hätte dich das gestört.«

»Liegt es an deinen Notizbüchern? Weil ich sie in London aus dem Müll genommen habe?«

»Nein.« Für mich hörte es sich wie aus weiter Ferne an.

»Woran sonst? Irgendetwas stimmt doch nicht.« Sie streichelte meine Brust. »Ich merke das.«

Ich küsste ihre Stirn, nahm sie in den Arm und drückte sie.

»Du wirst nicht mit der Sprache herausrücken, was?«, fragte sie nach einer Weile.

Ich sagte nichts weiter, bis ich letztendlich in einen traumlosen Halbschlaf verfiel, während Jodie aufstand und duschte, bevor sie zum Bett zurückkam.

Irgendwann kurz vor Sonnenaufgang wurde ich wach, weil ich dachte, eine eiskalte Hand berühre meine Brust. Ich zuckte hoch, wobei mir ein Schrei im Hals steckenblieb. Jodie schlief seelenruhig neben mir; seltsam, dass ich sie mit meinem Erschrecken nicht aufgeweckt hatte. Durch den Raum und einen Teil der Vorhänge konnte ich den Dreiviertelmond perlweiß am gefrorenen See reflektieren sehen.