Halb bewusst fasste ich an mein Gesicht, während sich meine Augen noch an die Finsternis gewöhnen mussten. Quälende Unruhe trieb mich an. Aufstehen, aufstehen, aufstehen. Ich dachte an nichts anderes mehr, also warf ich die Decken zurück und trat auf den kühlen Hartholzboden. Ein kalter Schauer durchfuhr wie ein Blitz meinen Körper und ich fühlte wie meine Hoden, diese beiden faltigen Feiglinge auf die Größe getrockneter Feigen zusammenschrumpften. Ich zog meine Schlafanzugshose an und schlich in den Flur, immer noch nicht an das Knarzen der Dielen gewohnt; ich zuckte jedes Mal innerlich zusammen, fürchtete, Jodie würde aufwachen. Aber sie schnarchte und war in ihrer eigenen Traumwelt verloren und ich schaffte es, ohne Zwischenfälle bis zum Teppichboden vorzudringen.
Wie in der ersten Nacht im Haus spähte ich übers Geländer hinunter in die Diele. Die Kartons standen nicht mehr dort und das Mondlicht fiel ungehindert durch die vorderen Fenster. Ich regte mich nicht, hatte jedoch meine klammen Hände zu Fäusten geballt, und lauschte auf ein Geräusch in der durchdringenden Stille des Hauses. Ich lauschte und lauschte. Worauf wartete ich? Was hatte mich aufgeweckt? Keine Ahnung.
Im Keller suchte ich nach der Schnur des Deckenlichts und nach einer Weile in der Dunkelheit irrend, wie ein pantomimischer Lotse vor einer Flotte Düsenflieger, spürte ich plötzlich, dass er in meinem Gesicht hing. Ich zog daran und das Licht brannte sich in meine Netzhaut. Ich zuckte zusammen und blieb in der Mitte des Kellers stehen, bis ich mich auf die Helligkeit eingestellt hatte. Dann schaute ich mich nach etwaigen Pfützen am Boden um. Es waren aber keine da.
Mein Blick fiel auf den Handabdruck an der Wand gegenüber. Ein besonders beklommener und überempfindlicher Teil meiner Seele war davon überzeugt, dass sich die Spur aufgelöst hatte, oder schlimmer – dass jetzt weitere, Dutzende mehr die Wand bedeckten, und zwar bis in den letzten Winkel –, aber er war da. Der einsame Kinder-Handabdruck.
Natürlich reichte er bereits aus, um mich zu verstören, doch nun nagte noch etwas an mir, das seinen Ursprung irgendwann früher am Abend hatte. Etwas Wichtiges war mir entgangen, wenn auch nur knapp, aber ich konnte nicht konkret dingfest machen, worum es sich handelte.
Als ich ins Bett zurückkehrte, begleitete mich dieses unangenehme Gefühl, und auch am Morgen brütete ich sehr lange darüber nach. Da Jodie an der Uni war, versuchte ich wieder, etwas zu Papier zu bringen, stellte aber wenig überrascht fest, dass ich mich einfach nicht darauf konzentrieren konnte. Bald hatte ich zu viel Kaffee getrunken und streifte durch die Zimmer, den leichten Schneefall durch die Mansardenfenster beobachtend.
Gegen Mittag hatte ich den Handabdruck dreimal gemustert. Er war abgesehen davon, dass er bei Tageslicht weniger schauerlich wirkte, unverändert geblieben. Tatsächlich glaubte ich gegen halb eins, dass Jodie vielleicht doch recht hatte: Der Fleck war vielleicht schon immer da gewesen. Der offene Farbeimer? Es schien nicht unwahrscheinlich, dass ich ihn dort vergessen und nicht unter die Treppe gestellt hatte, wie ich glaubte. Immerhin gehörte die Hand einem Kind, und wir hatten keins.
Ich rang mich zum Aufräumen des Zimmers durch, das unser Büro werden sollte. Immer noch stapelten sich Kisten darin, manche sogar bis an die Decke. Ich hob eine an und fiel beinahe rückwärts, weil sie so gut wie nichts wog. Sie war leer. Während ich sie zusammen mit ein paar anderen hinaus zur Abfalltonne trug, trommelte ich mit den Fingern gegen die Pappe.
Auf einmal fügten sich gewisse Puzzleteile in meinem trägen Geist zusammen, da wusste ich, was mir im Zusammenhang mit der Hand am Gips im Keller entgangen war. Komischerweise hatte es aber nichts mit dem Abdruck selbst zu tun, sondern allein mit der Wand. Wie ich mit den Fingern gegen den Karton klopfte, klang es genauso wie in der Nacht zuvor, als ich es am Trockengips getan hatte.
Hohl.
Ich kehrte in den Keller zurück und klopfte die Wand mit den Fingerknöcheln ab. Natürlich klang sie hohl, als befände sich nichts dahinter. Ich bewegte mich an ihr entlang, ohne mit dem Pochen aufzuhören, bis ich einen Unterschied wahrnahm, wo die Trockenwand unmittelbar über dem Betonschalstein oder irgendwelchen Balken befestigt worden war.
Neugierde und ein rechter Gefühlsaufruhr trieben mich dazu an, alles vor der hohlen Wand aus dem Weg zu räumen, bis der ganze Bereich freigelegt war. Während ich die Fugen der Gipsplatte ertastete, die man nicht überklebt hatte, jonglierte ich Quadratmaße im Kopf: Der Keller besaß eine kleinere Grundfläche als das Erdgeschoss, aber erklären konnte ich mir dies nicht. An und für sich hätten beide Maße ungefähr übereinstimmen müssen. Das bedeutete doch nicht etwa –
Als ich die Fuge zwischen zwei Trockenwänden hinunterfuhr, fiel mir eine geringfügige Delle auf. Ich betrachtete sie genauer, indem ich sozusagen die Nase gegen den Gips drückte. Es war ein Scharnier. Etwas weiter unterhalb befand sich ein zweites … und kurz vor dem Boden ein drittes.
Das war mit Sicherheit keine Wand.
Es war eine Tür.
Allerdings fehlte ein Knauf, Griff oder sonst etwas, mit dem man sie öffnen konnte. An der Fuge auf der anderen Seite versuchte ich, die Finger zwischen die beiden Platten zu klemmen, um die Tür aufzuziehen, aber es war unmöglich. Wahrscheinlich war sie schon seit Langem versiegelt worden.
Eine Tür wohin? Einen weiteren Raum?
Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Dann hörte ich die Stimme meines Therapeuten wieder: Es ist ein Kommen und Gehen. Die Wandschränke, in denen wir in London Nahrungsmittel verstaut hatten, fielen mir ebenfalls wieder ein, ihre Klapptüren mit Magnetverschluss.
Es ist ein Kommen und Gehen.
Ich legte eine flache Hand an die vermeintliche Wand und drückte vorsichtig dagegen. Ich fühlte sie etwas nachgeben … dann löste sie sich von der anderen Platte, wobei die Scharniere quietschten. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ein senkrechter Spalt in die Dunkelheit.
Erst als ich sie weiter aufmachen wollte, bemerkte ich, wie aufgebracht ich war, denn meine Hand zitterte heftig. Ein leises, kurzes Lachen entrann meiner Kehle.
Ich öffnete die Tür.
Kapitel 10
Als Jodie und ich das Haus in der Waterview Court bezogen, hatte ich bereits vier Bücher veröffentlicht, die sich entweder mit dem Übernatürlichen befassten oder dem Horrorgenre zuzuordnen waren. Ich handelte mit Spuk, Geistern und garstigen Wesen mit noch garstigeren Absichten. Als ich nun vor der offenen Tür in der Kellerwand stand, wurde mir bewusst, wie viele solcher Szenen ich bereits beschrieben hatte. Meinen Charakteren ließ ich seit jeher eine gewisse Beklemmung und Furcht angedeihen, wann immer sie kurz vor einer unwägbaren Entdeckung standen.
Jedoch hatte ich keinerlei Furcht, wie es im Gegensatz die meisten Charaktere in meiner Vergangenheit hatten. Ich war cool, eine fast erfrischende Zufriedenheit umgab mich, als hätte ich gerade die letzte Lücke eines ungewohnt verzwickten Kreuzworträtsels geschlossen.
Deshalb war mein erster Gedanke beim Öffnen der Tür: Scheiße, ich habe alles falsch gemacht.
Der Raum hinter der Tür war eng und fensterlos. Dunkle gewölbte Formen deuteten ein regelmäßiges Muster an, aber ohne Beleuchtung konnte ich nicht ausmachen, worum es sich handelte. Ich wollte mehr Licht hineinlassen, indem ich die Wand weiter aufmachte, aber die einzelne Birne mitten an der Kellerdecke war nicht stark genug. Ich tastete auf gut Glück an die Innenseite der Wand und fand überraschenderweise tatsächlich einen Lichtschalter. Ich knipste ihn an und musste daraufhin mehrere Sekunden lang sacken lassen, was ich sah.