Es war ein Kinderzimmer … oder zumindest andeutungsweise. In eine Ecke passte gerade eben ein kleines Bett, auf dessen Matratze ein Berg kleiner, bunter Kleidungsstücke lag. Auf einem schmalen Schreibtisch an einer Wand stand eine Leselampe mit Cowboy-und-Indianer-Motiv auf dem Schirm, und anderswo stand ein Bücherregal, vollgepackt mit Kinderbüchern und Spielzeug aller Art. Platz am Tisch nahm man auf einem Plastikstuhl in Form einer übergroßen, wie zum Schöpfen hohlen Hand, und am Fuß des Bettes quoll eine Box vor Plüschtieren über. Decke und hintere Wand aus nacktem Betonstein ohne Putz waren mit Sternen und Halbmonden beklebt, die im Dunkeln leuchteten. Die Pappkartons, die sich in der Mitte des Raumes stapelten, ähnelten jenen, die wir zum Umzug benutzt hatten, aufs Haar; sie beschrieben das Formmuster, das ich zuerst erkannt hatte.
Es wirkte wie ein Museumsschaukasten, die Rekonstruktion eines Kinderzimmers von 1958, wie etwas hinter Glas mit einem Messingschild auf dem steht: Rekonstruktion des Kinderzimmers eines Amerikanischen Jungen.
Ich trat in der festen Annahme ein, damit ein Heiligtum zu entweihen, bekam jedoch allenthalben ein unterschwelliges Schwindelgefühl. Abgesehen von einem schmutzigen Vorleger halb unter dem Bett blieb der Boden unbedeckt, weshalb meine Schritte auf dem Beton trotz der Enge des Raumes widerhallten. Ich untersuchte das Spielzeug auf den Regalen und die zusammengelegte Kleidung auf dem Bett, dann hob ich den Deckel der Box mit dem großen Zeh hoch – ich hatte meine Turnschuhe an – und blickte in die Augen ausgestopfter Bären, Schweinchen, Affen und weiterer schwer zu identifizierender Geschöpfe. Sie kamen mir wie Ertrinkende in einem Brunnenschacht vor.
Zuletzt ging ich zweimal um den Stapel Kartons in der Mitte des Zimmers. Der Karton wirkte alt, was der vereinzelte schwarze Schimmel darauf bestätigte. Als ich die obere Kiste aufklappte, sah ich noch mehr bunte Kinderkleidung wie auf dem Bett. Ein gestreiftes Poloshirt zog ich heraus; es war praktisch neu. Nachdem ich es wieder hineingesteckt hatte, stellte ich die Kiste auf den Boden, um die darunter zu durchstöbern, in der ebenfalls nur Kleidung verstaut war. Die dritte war vollgestopft mit Spielsachen, einem anderen Stoffbären, einer Baseballkappe und dem entsprechenden Ball dazu, abgegriffen mit zerfranster Naht, sowie Sneakers mit verknoteten Schnürsenkeln und getrocknetem Matsch an den Sohlen. Neben einem motorbetriebenen Bleistiftspitzer fand ich etwas, das wie die Achse eines Spielautos aussah, an der nur noch ein schwarzes Rad befestigt war, und schließlich fiel mir eine illustrierte Kinderbuchausgabe von Die Schatzinsel in die Hände.
So arbeitete ich mich durch alle Behälter – mit einer Mischung aus hartnäckigem Unglauben und zunehmender Benommenheit – bis zum untersten. Wie sich herausstellte, war dieser nicht wie die anderen, sondern aus hellblauem Plastik mit roter Kordel zum Anpacken. Mir war, als raste ein Bolzenschloss ein; gewisse Schlüsselelemente fügten sich, obwohl ich nicht genau eruieren konnte, was es war.
Ich ging vor der blauen Kiste in die Hocke, die nicht größer war als ein Farbeimer, und entfernte den Deckel ohne viel Aufwand. Es heißt, der Geruchssinn sei am stärksten ans Erinnerungsvermögen gekoppelt, und in diesem Moment zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass dies stimmte. Es duftete nach Spänen von Zedernholz, nach Hamsterstreu und getrockneten Brettern, ganz schwach auch nach Kunstharz. Indem ich dieses Gemisch einatmete, fühlte ich mich in meine frühe Kindheit zurückversetzt, als die Hölle nach dem Tod meines kleinen Bruders noch in weiter Ferne gelegen hatte.
In dem blauen Kasten lagen bunte Holzbauklötze verschiedener Form und Größe, wie ich sie ebenfalls besessen hatte, als ich klein gewesen war. Als meine Mutter sie im Rahmen eines Garagenflohmarktes verkaufte, hatten sie zahlreiche Dellen und Kerben davongetragen beziehungsweise weitgehend ihre Farbe verloren. Diese Klötze hingegen sahen brandneu und quasi unbenutzt aus. Ich nahm einen heraus und hielt ihn an meine Nase. Der bittersüße Geruch meiner Kindheit.
Wie mir Adams Bericht über Elijah Dentman wieder einfiel, wusste ich, dass ich in Elijahs Zimmer stand. All diese Dinge hatten ihm gehört. So hässlich dieser kleine Kerker anmutete, hatte er hier geschlafen, gespielt und sein Nachtgebet gesprochen.
Kalter Schweiß perlte von meinen Nacken hinab. Mein Mund trocknete aus. Was waren das für Eltern, die ihr Kind hinter einer Kellerwand versteckten? Ein Zimmer ohne Fenster, ohne natürliches Licht?
Unvermittelt kam mir die Weihnachtsfeier bei Adam in den Sinn, als ich mich am Buffet mit Ira Stein unterhalten hatte. Klar und deutlich hörte ich ihn sagen: Die Dentmans waren eine recht eigentümliche Familie, wie Sie vielleicht schon erfahren haben. Nicht dass ich schlecht über diese bedauernswerten Leute sprechen möchte, vor allem nach dem, was ihnen passiert ist.
»Du solltest runterkommen und dir das ansehen«, forderte ich Jodie gleich nach ihrer Rückkehr auf. Es war halb sechs und vorzeitig finster geworden. Ich hatte den ganzen Tag mit dem Durchsuchen von Elijah Dentmans Sachen verbracht.
Jodie sah müde aus, als sie ihre Bücher und Tasche auf dem Küchentisch ablegte. Sie beäugte mich wie jemanden, der ihr in einer dunklen Gasse auflauerte, während sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. »Erzähl mir nicht, du hast noch mehr Handabdrücke an den Wänden entdeckt.«
Es klang keine allzu subtile Verurteilung in ihrer Stimme.
»Besser«, antwortete ich.
»Hast du dich heute geduscht? Du siehst richtig brutal aus.«
»Komm schon«, sagte ich und machte mich auf den Weg den Flur hinunter Richtung Kellertür. »Sieh es dir mal an.«
Sie folgte mir.
»Hier lebte mal ein kleiner Junge«, erklärte ich von unten hinauf, während Jodie matt die Stufen herabstieg. »Elijah hieß er. Seine Mutter und ihr Bruder brachten ihn mit, als sein Großvater erkrankte.« Dass der Knabe im See hinterm Haus ertrunken war, sparte ich bewusst aus. Als sie den Fuß der Treppe erreichte, ergriff ich ihre Hand und führte sie eilig zur Geheimtür. »Du wirst es nicht glauben, aber ich schätze, ich habe das Zimmer des Jungen gefunden.«
Wir standen Schulter an Schulter in der Wandöffnung zu Elijah Dentmans Raum wie ein Paar an einer U-Bahn-Haltestelle. Ich lachte, weil mich dieser nahezu archäologische Fund nach wie vor verblüffte, und trat schließlich erneut ein, indem ich die Kisten umging, die ich nach dem Sichten willkürlich verstreut stehen gelassen hatte.
Jodie verharrte am Eingang. Ihre Miene zeugte von vollkommener Verständnislosigkeit. Nein, nicht bloß das, sondern vor allem Fassungslosigkeit. Flüchtig wollte ich mir weismachen, dass ich ähnliche Szenen in meinen Büchern wirklichkeitstreu ausgearbeitet hatte.
»Sieh dir dieses Loch an«, sprach ich. »Die haben das arme Kind hier wie einen Gefangenen gehalten.«
Langsam hob Jodie eine Hand und hielt sich den Mund zu. Ihr Teint hatte die Farbe saurer Milch angenommen.
»Es war, als hätte ich einen Luftschutzbunker ausgehoben oder eine Zeitkapsel, oder irgendetwas nach einem nuklearen Holocaust.«
»Wie … hast du das gefunden?«
»Im Weg stand ja nichts weiter als die Gipswand. Ich drückte dagegen, und sie sprang wie die Grabkammer irgendeines verwunschenen Pharaos auf.« Ich winkte sie herein. »Komm und wirf einen Blick hierauf.«
»Nein.« Sie bewegte sich nicht von der Stelle.
»Wieso?«
»Komm raus. Das gefällt mir nicht.«
»Wovon redest du? Ist das nicht total irre?«
»Genau, das ist es.«
Ich tippte die Plastikkiste, in der das Holzspielzeug lag, mit dem Fuß an. »Als ich klein war, hatte ich die gleichen Bauklötze.«
»Schön für dich. Jetzt komm da bitte raus.«