Endlich fand ich es; die Schlagzeile sprang mich geradezu an:
JUNGE ERTRINKT IM SEE
Eine frostige Woge floss durch meinen Körper. Dass es der Wirklichkeit entsprach, lähmte mich. Ich atmete nicht, dessen war ich mir bewusst, konnte allerdings nichts dagegen unternehmen.
Direkt links unter der Zeile war ein Schulfoto von Elijah Dentman abgedruckt. Seine Haut schimmerte so hell wie das Haar. Er hatte ein rundes Gesicht und zusammengekniffene Augen, doch darauf belief sich die Ähnlichkeit zu Kyle. Sein Erscheinungsbild deutete eine gewisse Trägheit oder Unterentwicklung an. Der Schnappschuss musste in einem Supermarkt entstanden sein, typisch mit falscher Holzvertäfelung im Hintergrund, und wirkte so schlicht wie alltäglich. Trotzdem wäre ich, als ich dem Jungen in die Augen schaute, am liebsten zusammen- und in Tränen ausgebrochen.
Laut David Dentman, dem Onkel des Jungen, war er nachmittags zum Schwimmen an den See gegangen und wollte auf dem Treppengestell spielen, während David ihn vom Wohnzimmerfenster aus im Auge behalten hatte und seine Mutter im Obergeschoss schlief. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte David hinausgesehen und Elijah nicht entdeckt, weshalb er rufend zum See geeilt und ins Wasser gewatet war, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Als er allem Anschein nach Blut auf einer der Holzstufen gesehen hatte, war er verständlicherweise in Panik geraten und zurück zum Haus gelaufen, um die Polizei zu rufen.
Die Cops suchten den See und die anliegenden Waldstücke flüchtig ab. Sie verhörten auch die Nachbarn und es wurde Nancy Stein zitiert, die David Dentmans Aussage bestätigte: Sie war mit dem Hund spazieren gegangen und hatte Elijah auf der Holztreppe im Wasser beim Spielen gesehen. Später am Nachmittag sei ihr dann ein spitzer Schrei von dorther aufgefallen, bei dem Nancy Stein sich erst später etwas gedacht habe, wie sie behauptete …
Nachdem ich den Bericht durchgelesen hatte, kam es mir vor, als hätte mich jemand wiederholt in den Magen geboxt. Es gab einen wichtigen Aspekt des Vorfalls, den mir Adam nach der Party bei sich zu Hause nicht geschildert hatte: Elijahs Leichnam blieb seitdem verschollen. Selbst die Taucheinheit des Westlake Police Departments hatte ihn nicht gefunden. Dem Polizeichef zufolge befand sich das Wasser des Sees während der Sommermonate auf dem Höchststand, und der anhaltende Regen der vergangenen Monate hatte den Grund aufgewühlt, was die Sicht unter Wasser erschwerte. Man durchkämmte das Gewässer noch den ganzen Abend lang, stieß aber nicht auf die Leiche. Sie haben den Jungen nie gefunden.
Das letzte Wort zum Thema las man auf dem Titel der darauffolgenden Ausgabe: Die Polizei ging davon aus, Elijah sei abgerutscht und habe sich den Kopf am Holz aufgeschlagen, das Bewusstsein verloren und schlussendlich den Tod gefunden – er war ertrunken. Die DNA-Tests hatten ergeben, das Blut auf den Treppen war das von Elijah. Den Schrei, den Nancy Stein vernommen hatte, stammte vermutlich von Elijah, als er die Treppen hinabfiel, bevor er mit dem Kopf aufgeschlagen war. Und genau so wurde der Fall abgeschlossen.
Ich las den Artikel mehrmals durch, ohne richtig schlau daraus zu werden. Sicher, der See war groß, aber dennoch ein überschaubares Gewässer. Warum gelang es ihnen nicht den Leichnam zu finden? War das Kind derart schnell verwest und zerfallen? Das ergab keinen Sinn.
»Hier trotzdem etwas Kaffee für Sie.« Sheilas Stimme ließ mich vor Schreck auffahren. Ich war so vertieft, dass ich die Tür überhaupt nicht gehört hatte. Sie stellte einen Plastikbecher neben den Zeitungen auf dem Tisch ab. Als sie über meine Schulter lugte, sah sie die Schlagzeile und schüttelte den Kopf, als sei sie bitterlich enttäuscht. »Oh, ich erinnere mich. Was für eine furchtbare Tragödie.«
»Man hat die Leiche nie gefunden«, bemerkte ich ungläubig mit kratziger Stimme.
»Wenn so etwas einem jungen Menschen passiert, ist es umso schlimmer.« Sheila runzelte die Stirn, bevor auch der Rest ihres Gesichts in Falten lag. »Weshalb interessieren Sie sich für dieses Drama?«
»Meine Frau und ich, wir sind neu in der Stadt und hörten davon.« Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. »Schätze, aus reiner Neugier.«
»Ein junger Mann wie Sie sollte sich nicht mit solch makabren Dingen beschäftigen, sondern Angeln gehen, Fußball spielen und Zeit mit seiner Frau verbringen.«
»Ich schreibe Horrorbücher, verdiene mein Geld mit dem Makabren, Sheila«, gestand ich und nahm den Kaffee, um daran zu nippen.
Sie strahlte wie eine stolze Mutter, weil ich sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. »Was genau schreiben Sie? Kurzgeschichten?«
»Romane.«
»Wirklich? Fantastisch! Wurde irgendetwas auch veröffentlicht?«
»Alle.« Ich hasste diese Frage schon immer.
»Haben wir sie vielleicht sogar hier in unserer Bibliothek?«
»Genau genommen steht eines meiner Bücher dort drüben im Regal. G wie Glasgow.« Ich wollte sie plötzlich loswerden, und dies stellte sich wohl als beste Möglichkeit dar.
»Ist das nicht witzig? Glasgow sagten Sie? Wie die schottische Stadt?«
»Exakt.«
Sheila grinste so breit, dass ich jeden Moment erwartete, ihr Kopf fiel über dem Oberkiefer ab. »Wissen Sie, was ich jetzt mache? Ich werde dieses Buch suchen und Sie es signieren lassen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wir stellen einen hübschen Reiter mit den Werken unserer Lokalhelden am Eingang auf.« Sie schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Toll. Als lebten Prominente in unserer unmittelbaren Umgebung.«
Sheila schlurfte davon, und ich hängte den gelben Katalog wieder an den Haken. Ehe ich mich aber auf den Weg machte, gab ich einem unverhofften Drang nach und blätterte zurück zum Artikel über Elijah Dentman. Nach einem kurzen Blick über die Schulter riss ich die Seite heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche meiner Jeans.
Kapitel 13
»Warum zum Teufel hast du mir nicht gesagt, dass sie Elijah Dentmans Leichnam nie geborgen haben?«
Adam hatte einen freien Tag, und wir saßen mit gesundem Durst an der Theke des Tequila Mockingbird. Das Bird, wie es die Stammkunden nannten, war ein schummriger, rustikaler Pub mit rußigen Backsteinwänden und verzogenem Holzfußboden, wie aus den Albträumen eines Verrückten. Der zersplitterte Tresen befand sich an einer Wand gegenüber einer Reihe Rundtische, während eine alte Jukebox neben der Klotür Staub ansetzte. Entblößte Deckenstreben, durchweg verkohlt und leidlich stabil, erinnerten an Fettbrände, die außer Kontrolle geraten waren. Mit all ihren Geistern und Aromen aus vergangenen Tagen unterschied sich die Bar nicht großartig von anderen überall im Land.
Die einzige Ausnahme war eine Wand nicht aus Backsteinen, sondern mit einer riesigen Anzahl von Mahagoni-Regalen, auf denen sich Hunderte – vielleicht Tausende – in Leder gebundene Bücher befanden. Die Rücken waren brüchig, und viele der aufgeprägten Titel nicht mehr lesbar. Das letzte Brett, die hinterste Nische der die ganze Breite des Raumes einnehmenden Konstruktion, beanspruchten die Wälzer. Einige steckten liegend unter den Böden, wohingegen man andere zwischen zwei Bände geschoben hatte, und zwar offensichtlich so gewaltsam, dass es nahezu genauso unmöglich war, sie herauszuziehen, wie einen Nagel in einem Baumstamm. Gerahmte Kunstdrucke der Gemälde aus William Blakes Zyklus Lieder der Unschuld und Erfahrung hingen an den übrigen Wänden, wobei die Farben hinterm Glas derart brillant und gestochen scharf waren, dass sie inmitten dieses düster ländlichen Gasthauses völlig fehl am Platz wirkten.