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Die Vorstellung jagte mir eine Heidenangst ein.

»Wie dem auch sei«, fuhr Adam fort. »Vom Standpunkt eines professionellen Ermittlers aus – und ein solcher zu sein, maße ich mir durchaus an – ziehst du wohl allzu voreilige Schlüsse aus dem Zimmer, das du in eurem Keller gefunden hast.«

»Aha. Welche Schlüsse sollen das sein?«

»Zuallererst nimmst du an, es gehöre Elijah, nur weil sein Bett und all die Sachen drinstehen.«

»Und das ist falsch?«

»Es ist eine Möglichkeit, aber deshalb ist es noch lange keine Tatsache. Du musst alles andere ausschließen können, bevor du einen Strich darunter ziehst. So könnten Veronica und David Dentman, der Onkel des Kindes, das Zeug etwa nach dem Unfall in den Keller geschafft haben, genauso wie Kyles Sachen in der Garage verwahrt worden waren.« Er fuhr mit dem Daumen über die Kante seines Bierglases. »Und euer Haus hat keine Garage.«

»Shit«, fluchte ich. Zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten hebelte Adam meine Auffassung von Wirklichkeit aus den Angeln. Dabei war der Bastard noch betrunkener als ich. »Schätze, da ist was dran. Von dieser Warte aus habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Das Kribbeln in meinem Bauch flaute rapide ab. Die Begeisterung, mit der ich über die fiktiven Dentmans geschrieben hatte, schien zu verebben oder zusammenzuschrumpfen, und ich befürchtete, der Nebel der Schreibblockade ziehe erneut auf und hülle mein Konstrukt ein.

»Trotzdem …« Adams Stimme verklang.

»Was?«

»Nun«, hob er an und versuchte – so zumindest fasste ich es auf –, sich seines angeschlagenen Zustandes zum Trotz vorsichtig fortzutasten. »Selbst wenn es sich nicht um das Zimmer des Jungen handelt, bleibt eine Frage offen.«

»Und die wäre?«

»Wozu diente der Verschlag?«

Das musste ich zunächst auf mich wirken lassen, Adam offenbar auch, denn er schwieg mehrere Sekunden lang.

»Leute«, unterbrach Tooey im Vorbeigehen am Tresen. Er zwinkerte uns verstohlen zu. »Alles klar bei euch?«

Ich hob eine Hand. »Bestens, danke.«

Hinter uns fütterte jemand die Jukebox für Johnny Cash.

»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte ich schließlich nach einer zu langen Schweigeperiode. Ich erzählte Adam davon, wie ich meine alten Aufzeichnungen weggeworfen hatte, die frühen Ergüsse zu Kyles Tod aus der Zeit kurz nach unserem Umzug nach London. »Damals begriff ich es nicht so recht, aber jetzt glaube ich, klickt es allmählich.« Ich wartete auf Adams Antwort; wenigstens hätte er fragen können, was mich schlussendlich zu diesem neuen Bewusstsein gebracht hatte, doch er sagte kein Wort. Also räusperte ich mich einmal mehr und fuhr fort: »Es lag daran, dass ich mich nach Mutters Beerdigung und unserem Streit elend fühlte. Ich habe mich schäbig benommen und war weder dir noch Beth gegenüber sonderlich fair, geschweige denn, dass ich Jodie damit einen Gefallen getan hätte.«

Er starrte wieder beharrlich auf sein Bier. »Oder dir selbst, nicht wahr?«

»Ich warf die Notizbücher weg, weil ich dachte, so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu können.«

»Und? Funktionierte es?«

Mein Kopf fühlte sich knallrot und heiß an, wie glühende Asche. Ich schaute in den Spiegel, nur um sicherzugehen, dass kein Schweiß auf meiner Kopfhaut verdampfte.

»Hat es geklappt?«

»Ich hasse es, das jetzt zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil es geklappt hat. Es widert mich regelrecht an, dies zuzugeben, aber während der Zeit in London habe ich fast überhaupt nicht an Kyle gedacht. Ich erinnere mich sogar an einen Zeitungsbericht über ein kleines Mädchen, das in Highgate Ponds ertrunken war. Beim Lesen sagte ich mir noch: Ach ja, ich vergaß, das Gleiche ist Kyle zugestoßen.« Ich rieb meine Augen; die Finger waren vom Bier klebrig. »Oh Gott, ich höre mich ätzend an.«

»Du suchst bloß einen Mittelweg«, erwiderte Adam und trank ein weiteres Glas leer. »Die Antwort besteht darin, dich einerseits nicht selbst zu verurteilen und ein Leben im Kummer zu fristen, andererseits aber auch nicht zu verdrängen, was geschehen ist.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir sollten aufbrechen. Es ist schon spät.«

Beinahe hätte ich ihn am Handgelenk gepackt und die eine verbliebene Frage gestellt, die mir schon seit Tagen auf den Lippen brannte: Glaubst du an Geister? Bevor ich mich jedoch dazu hinreißen ließ, wurde mir blitzartig klar, wie absurd es geklungen hätte, also behielt ich es weiterhin für mich.

Ohnehin weiß alle Welt, wo die Toten hinkommen – unter die Erde.

Als ich in jener Nacht nach Hause zurückkehrte, schlief Jodie bereits. Es war bitterkalt im Haus, also legte ich eine zusätzliche Decke über sie und küsste ihre Wange. Sie regte sich und brummelte, wobei eine ihrer Hände unter den Laken herausrutschte und meinen Arm packte. Sie drückte zu.

»Wollte dich nicht wecken«, flüsterte ich von der Bettkante aus.

»Hmmm«, summte sie schläfrig. »Macht nichts. Legst du dich zu mir?«

»Noch nicht.«

»Willst du was Witziges hören?«

»Sicher«, beteuerte ich nach wie vor wispernd.

»Kurz bevor du zurückgekommen bist, war ich auf dem Klo.«

»Hast nicht zu viel versprochen«, entgegnete ich, indem ich ihren Handrücken rieb. »Ein echter Brüller.«

»Nein«, wandte sie ein. »Hör zu.«

»Mach ich.«

»Ich ging ins Bad und schaltete das Licht ein. Dabei musste ich blinzeln, du weißt schon, weil es so hell war und ich schon geschlafen hatte. Kennst du doch, oder?«

»Natürlich.«

»Also kniff ich die Augen zusammen, guckte in den Spiegel, und weißt du was? Ich sah nicht mich, sondern jemand anderen darin.« Ihr Gesicht schien über dem weißen Gebirge des Kissens zu schweben und wirkte geisterhaft bleich, wie der Mond.

»Weißt du, wen ich sah?«

»Wen?«

»Dich«, sprach Jodie. »Ich war du – nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber ich war du.«

Ich beugte mich nach vorn und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie fühlte sich sehr warm an. »Du hast das geträumt«, erklärte ich ihr.

»Nein«, widersprach sie. »Ich war hellwach. Was glaubst du, hat das zu bedeuten?«

»Hab keine Ahnung«, gab ich zu und stopfte die Decken fester um sie herum.

Jodie wälzte sich auf die Seite, wobei ich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen bemerkte. »Ich auch nicht.« Ihre Lider flatterten, ehe sie die Augen wieder schloss. »Das ist wohl das Schöne am Geheimnisvollen.«

Nach dem dritten Kuss ging ich leise in den Flur und schaute nach dem Thermostat. Es zeigte nach wie vor zwanzig Grad an, obwohl es sich im Schlafzimmer wie unter zehn anfühlte. Ich sah sogar den Hauch meines Atems.

»Verdammt, das ist lächerlich.«

Im Büro gegenüber leuchtete etwas, also steckte ich den Kopf durch den Türspalt und machte die Lampe an. Jodie hatte ihren Tisch an die Wand gestellt. Der Bildschirm darauf strahlte sein amethystfarbenes Licht ab, daneben stand ein altertümlicher Drucker, und Jazz-CDs lagen verteilt auf der Arbeitsfläche. Die ganze Wand über dem Tisch war mit gerahmten Auszeichnungen tapeziert, Diplomen wie Abschlusszeugnissen und einer Liste der besten Studenten Amerikas neben einer Frau-des-Jahres-Plakette der alten Universität, an der sie ihr Grundstudium absolviert hatte. Am Boden stapelten sich Bücher über Psychologie sowie Ordner voller Fotokopien wie Türme einer gerade entstehenden Stadt, Diagramme und Kurven voller Textmarker-Linien. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht sauber gemacht und Jodie damit sich selbst überlassen hatte.