Wir erreichten eine Lichtung im Wald an der Spitze des Sees. Gegenüber sah ich das Haus der Steins hinter den nackten, grauen Bäumen auf den Felsen. Wir setzten uns auf einen Baumstumpf, der breit genug für uns beide war, während Jacob und Madison weiter durch den Schnee sprangen, der von ihren Stiefeln bröckelte und in die Höhe stob, als sie beim Rennen mit den Hacken ausschlugen.
Adam bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie. Nachdem er sich die letzte in den Mund gesteckt hatte, zerknüllte er das leere Päckchen und entsorgte es in einem Blecheimer, der praktischerweise an den Stamm eines nebenstehenden Baumes genagelt war.
Ich hatte seine Frage nicht beantwortet; sie schwebte noch zwischen uns in der Luft wie etwas, das wir beide peinlich fanden.
»Hör zu«, sprach Adam schließlich. »Was wirst du tun, wenn du im Haus dieser armen Frau aufkreuzt, wenn sie zusammenbricht, sobald sie sieht, dass dein Wagen voll beladen mit den Spielsachen ihres toten Sohnes ist? Denkst du, es wird dir besser gehen, nachdem sie vor dir umgekippt ist und sich die Augen ausgeweint hat? Was hat sie davon?«
»Du begreifst es nicht.«
»Oh doch, ich begreife es voll und ganz. Hier geht es nicht um den Jungen der Dentmans.«
»Worum sonst?«
Adam wandte sich ab. »Vergiss es.«
»Nein«, beharrte ich. »Raus mit der Sprache.«
»Gottverdammt, Mann. Erkennst du es denn nicht? Du hängst wieder einmal in einer klassischen Sackgasse deines Lebens fest, und in typischer Travis-Glasgow-Manier, tust beziehungsweise sagst, was du willst, solange du dich eine Weile besser fühlst, egal wie andere dabei empfinden.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte mir weniger wehgetan als das. Vermutlich merkte er es auch, denn sein Blick ruhte eine Millisekunde zu lang auf mir, und ehe er wegschaute, sah ich, seine Züge weich werden.
Ich warf die Zigarette auf die Erde und erhob mich.
»Scheiße«, grollte Adam. »Tut mir leid. Das hörte sich brutaler an, als es gedacht war.«
»Egal, nun ist es raus.« Aus irgendeinem Grund bekam ich zittrige Hände, also versteckte ich sie in meinen Taschen.
»Hass mich, falls dir danach ist, aber ich kann nicht ruhig zusehen, wenn du auf dem besten Weg bist, dir selbst zu schaden.«
»Scheiß drauf, Mann. Du hältst dich für den großen beschissenen Beschützer vor allen Übeln der Welt und glaubst, dir ein verschissenes Martyrium aufbürden zu müssen, nur weil du mein älterer Bruder bist. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich bin keine dreizehn mehr. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
»Vergiss es wieder, okay?« Adam klang so gottverdammt gelassen, dass ich ihm am liebsten eine aufs Maul gehauen hätte. »Die Welt ist nicht gegen dich. Genauso wenig wie ich. Diese ganze Selbstmitleid-Sache ist seit Jahren abgelaufen.«
Etwas in mir klinkte aus. Ich drehte mich ruckartig um. »Du bist ein Stück Scheiße – weißt du das? Du hast mich abgewiesen, als wir klein waren, nach dem, was mit Kyle passierte. Und jedes Mal, wenn wir miteinander streiten, wirfst du mir dasselbe vor. Du bist ein mieses Schwein, Adam.«
Er sprang so ungestüm von dem Baumstamm auf, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich hasste mich dafür, ungewollt zusammengezuckt und einen Schritt zurückgewichen zu sein.
»Ich hab dich weder abgewiesen noch jemals für Kyles Tod verantwortlich gemacht«, sagte er, »sondern nur dafür, dass du danach ein richtiges Arschloch geworden bist.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht –«
»Ich war auch ein beschissenes Kind! Du hast keinen Schimmer davon, was ich durchgemacht habe.« Seine Stahlaugen brannten sich in meine, und ich hasste es, nicht wegsehen zu können. Ich hasste es, dass er der Stärkere war, in dieser Situation und vermutlich über weite Teile unseres Lebens hinweg. »Auch ich habe einen Bruder verloren, du beschissener Blödmann.«
Das Schlottern meiner Hände war nunmehr auf die Arme übergegangen. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen – egal was –, doch was ich äußerte, war nur ein schwaches, unartikuliertes Grunzen. Einen Moment später sah ich Adam doppelt, dann dreimal.
»Herrgott noch mal«, knirschte er und legte einen Arm um meinen Hals. Er presste die Lippen an meine Schläfe.
»Lass mich los«, murmelte ich, obwohl ich es gar nicht wollte.
»Du bist mein Bruder; du bist alles, was ich habe.«
»Du hast Beth«, konterte ich. Dann nickte ich in Richtung der Kinder, die sich auf einem Schneehaufen zankten und dabei ohrenstechend kreischten. »Und du hast diese zwei Herzchen.«
Adam lachte kurz auf, Madison plumpste gerade mit dem Hintern in den Schnee. »Verdammt«, fluchte er, »wahrscheinlich hast du sogar recht.«
Später am Abend kam er bei uns vorbei mit einem linierten Notizbuchzettel, auf dem eine gekritzelte Adresse stand.
Kapitel 15
Irgendwann im Laufe der Nacht wurde ich vom Trippeln nackter Füße auf dem Flur im Obergeschoss wach. Ich kletterte benommen aus dem Bett, wobei ich Jodie, die wie immer tief schlummerte, nur halb bewusst neben mir wahrnahm. Als ich vor die Zimmertür trat, sah ich immer noch nicht klar. Der Lichtschalter war offenbar verschwunden, denn ich fand ihn nicht. Ich lauschte und vernahm hastige barfüßige Schritte die Treppe hinunter.
Der Moment, den ich verharrte, kam mir länger vor, als er in Wirklichkeit dauerte. Ob ich richtig wach war oder noch träumte beziehungsweise in einem abstrakten Zwischenzustand schwebte, konnte ich nicht sagen.
Meine Haut fühlte sich gefroren an, während ich innerlich brannte, als hätte ich Fieber. Wie ein Gespenst wandelte ich an der Brüstung entlang und warf einen Blick in den Flur unterhalb. Zuerst sah ich nichts. Doch als ich genauer hinschaute, erkannte ich, allem Anschein ein kleines Kind, das reglos am Fuß der Treppe an der Wand lehnte. Ohne Zögern fing ich an, die Stufen hinunterzugehen, wobei ich eine Hand auf das Geländer legte, um mich im Dunkeln zu orientieren.
Als ich unten ankam, war das Kind verschwunden. Mondlicht drang durch die breiten Vorderfenster in die Diele und schraffierte den Teppich leuchtend blau. Da stand ich nun und zitterte, obwohl meine Haut von Schweiß überzogen war. Was ich als Nächstes tun sollte, wusste ich nicht.
»Elijah …?« Es blieb bei einem Flüstern – nein, nicht einmal das war es, denn selbst etwas so Leises vermochte ich nicht durch meine verkrampfte Kehle zu pressen –, doch der Geisterjunge ging nicht darauf ein.
Ich glaubte, etwas hinter mir zu hören, und fuhr herum. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß ich, wo ich war. Eigentümlich ruhig schritt ich weiter voran auf der Suche nach einem Jungen, von dem ich wusste, dass er nicht da war. Alles erschien mir auf dramatische Weise überbetont – mein Atem, das Knirschen und Knacken der Bretter sowie das Geräusch meiner bloßen Füße, als ich vom klebrigen Hartholzboden auf den Teppich im Hauseingang trat. Dessen Fransen spürte ich besonders intensiv an den Zehen, fast wie Stacheln. Meine Schritte hingegen verursachten keinerlei Lärm.
Hier herrscht Klarheit, dachte ich mir und war nicht sicher, was ich damit meinte.
Ich ließ die Diele hinter mir. Im Wohnzimmer dachte ich: Die Wirklichkeit ist eine Frage subjektiver Wahrnehmung, genauso wie Träume oder Erzählliteratur. Alles ist Fiktion, und der Trick besteht darin, sich an etwas festzuhalten – festzuhalten mit aller Kraft –, bis man dazu in der Lage ist, einen halbwegs normalen Zustand wiederzuerlangen.
Wirf einen Anker aus, dachte ich weiter.
Dann blieb ich stehen, mitten im Wohnzimmer, frierend, allein und unsicher, was zur Hölle ich da machte. Der Mond, ein Glupschauge mit stechendem Blick, linste durch eines der Fenster; das Licht der Straßenlampen bohrte sich wie Nadeln in meine Augen. Ich bildete mir ein, die Tür zum Keller zu hören, die von hier aus auf der anderen Seite des Hauses lag … und hörte schnelle Schritte jener nackten Füße, barfüßig über die Treppe laufen, zwei auf einmal nehmend, hinab in die eiskalte, verlassene Finsternis …