Aber ich bewegte mich nicht.
Ich war fertig mit der Geisterjagd.
Teil drei.
Ruhiger Ozean
Kapitel 16
Veronica Dentman lebte in einem unscheinbaren Dörfchen in Maryland, das eine uneindeutige Grenze zwischen Cumberland und den Potomac Highlands von West Virginia beschrieb. Die Abendnachrichten empfing man hier von einem Sender in Pittsburgh.
Den Großteil der Strecke legte ich auf einer unwägbaren, namenlosen Straße zurück, die sich durch dichte, vom Schnee betupfte Wälder über Berg und Tal schlängelte. Den Morgen verbrachte ich damit, meinen Kreislauf mit schwarzem Kaffee auf Trab zu bringen und im Akkord Zigaretten zu rauchen – armselige Versuche, meiner überspannten Nerven Herr zu werden. Zudem war ich mit starken Kopfschmerzen wachgeworden und jeder meiner Muskeln fühlte sich lasch an, was ich als sicheres Zeichen dafür deutete, dass ich etwas ausbrütete. Der Abstecher aus der Enge des Hauses in die Wildnis tat mir andererseits gut, selbst wenn ich Unruhe im Leib verspürte, als winde sich ein Parasit durch meine Eingeweide.
Neben mir auf dem Beifahrersitz stand ein einzelner Karton voller Gegenstände, die ich gezielt aus Elijahs Zimmer mitgenommen hatte, um sie seiner Mutter zurückzugeben. Zwischen beiden Sitzen klemmten mehrere Straßenkarten vom Westen Marylands, wobei Veronicas Wohnort auf einigen gar nicht eingezeichnet war.
Ich rechnete mit ungefähr einer Stunde Fahrt – nicht nur aufgrund dessen, was Adam gesagt hatte, sondern auch wegen der Entfernung zwischen West Cumberland und Westlake auf den Karten –, aber gegen Ende der Strecke verlor ich unnötig viel Zeit und zuckelte einige schmalere Nebenstraßen durch den Wald, bis ich nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Ich hatte Geschichten über Leute gehört, die heutzutage in der Wildnis verlorengingen und nie lebend wiedergesehen wurden. Mit Ampeln und Straßenschildern kannte ich mich besser aus als mit ewig langen Pisten aus platt gedrücktem Schnee und Hartriegeln am Rand, soweit das Auge reichte.
Nachdem ich ungefähr zwanzig Minuten nach dem richtigen Weg gesucht hatte, fuhr ich mit dem Honda durch heruntergekommene, leere Straßen eines trostlosen Bergdorfes, das meinen Erwartungen absolut nicht entsprach. Während Westlake sauber und heimelig beziehungsweise zu sehr wie ein Stillleben von Norman Rockwell wirkte, handelte es sich bei dieser Siedlung um Westlakes degenerierten Bruder. Die Häuser hier – etwas weniger als doppelt breite Trailer – waren zusammengepfercht wie Waggons an einem Güterbahnhof. Sie wirkten klein, ärmlich und passten farblich nicht zueinander, ganz zu schweigen davon, dass die Verkleidungen abbröckelten und Fensterläden fehlten. Auf manchen Dächern hatte man alte Autoreifen festgenagelt. Wäschespinnen aus Aluminium sprossen wie zu kurz geratene elektrische Umsetzer aus den Gärten und glänzten matt in der Sonne.
Alle Häuser waren umzäunt, allerdings nicht mit weißen Lattenzäunen wie in Westlake; vielmehr wirkten sie wie Gefängnisse aus rostigem Maschendraht, der grob etwas von Fenstergittern von Nervenheilanstalten hatte. Neben einer Tür standen Einzelteile einer großen Fernsehantenne, die aussahen wie ein von Geiern abgenagter Torso. Selbst der Schnee kam mir dreckig vor.
Ich fuhr noch ein paar Minuten ziellos herum, bis ich Veronicas Straße entdeckte – was keine leichte Aufgabe darstellte, da das Schild mit dem Namen im rechten Winkel umgebogen war und wie die Schranke einer Mautstelle auf die Fahrbahn ragte. Ich lenkte scharf rechts, um im weiten Bogen auszuweichen, und schaute angestrengt durch die Windschutzscheibe, um die erstbeste Hausnummer auszumachen. Auch das fiel schwer, denn die schmiedeeisernen Lettern hingen an einigen der Heime neben dem Eingang und damit im Schatten ramponierter Vordächer, während man sie anderswo gegen den Pfosten des Briefkastens gehämmert hatte. Die unterschiedliche Farbe im Umriss der jeweiligen Zahl am Holz blieb dann der einzige Hinweis darauf, dass es sie überhaupt gab.
Es handelte sich um eine Sackgasse, die am Fuß einer bewaldeten Anhöhe endete. Da ich Veronicas Adresse nicht sichten konnte, fragte ich mich, ob Adams Angabe vielleicht nicht richtig war. Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf selbem Weg zurück, um mich noch einmal zu versichern, während ich nicht umhinkam, die hochgeklappten Lamellen der Fensterrollos und Augenpaare im Dunkel hinter den Scheiben zu bemerken. Schließlich war ich erneut am Ende der Gasse angelangt und schaltete den Motor ab. Entweder hatte mir Adam die falsche Adresse gegeben, oder ein Tornado hatte Veronicas Haus fortgeweht.
Aber halt. Ich beugte mich über das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe. Meine Erbitterung ließ sie wohl beschlagen, also machte ich die Lüftung an und wartete ein paar Sekunden, bis mein Atemhauch vom Glas verschwand. Beim ersten Mal hatte ich es nicht bemerkt, doch jetzt sah ich ihn eindeutig, einen unbefestigten Weg mit Spurrillen, den man vom Schnee befreit hatte. Er führte zwischen den Kiefern hindurch den Hügel hinauf.
Ich löste die Handbremse wieder und fuhr weiter, wobei die niedrig hängenden Äste gegen die Motorhaube schlugen. Der Wald war so dicht, dass kaum Schnee bis auf den Grund gefallen war. Ich folgte dem Weg bis zum höchsten Punkt, der sich als weite, flache Lichtung herausstellte.
In der Mitte stand ein Haus, das deutlich geräumiger war als die auf dem Weg hierher, wenngleich es auch nicht gepflegter aussah. Wie der Rest der Anwesen in West Cumberland sah Veronicas Heimstatt aus, als sei es aus der Höhe auf dieses Fleckchen Land voller toter, gefrorener Unkräuter, viel zu großer, unechter Sonnenblumen sowie kaputter Gartenmöbel herabgestürzt. In der Nähe der Tür fungierte ein ausgedienter Traktorreifen als Gefäß für einen kahlen Strauch, der wie ein Skelett aussah. An der linken Wand stand eine Pyramide aus Drahtkäfigen – Krabbenköcher und Hasenfallen, in denen immer noch steif gefrorene Köder hingen.
Ich atmete schwer, weshalb die Scheiben erneut beschlugen.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, nahm ich den Karton vom Beifahrersitz und stieg aus. Da wurde ich einer Bewegung rechts von mir gewahr und wandte mich erschrocken der einen Seite der Behausung zu. Zu meiner Erleichterung handelte es sich bloß um einen Wäscheschirm, der im Wind schwankte. In der Ferne verschaffte sich ein aufgebrachter Hund Gehör.
Ich trat auf die morsche Terrasse, in der schartige Löcher klafften, wie um mir hungrig die Knöchel aufzureißen, und klopfte an den Rahmen des Fliegengitters.
Dann wartete ich … einen endlosen Augenblick lang. Drinnen regte sich nichts, und vor dem Haus parkte außer mir niemand.
Dann ging die Tür auf, nur das schmutzige Gitter trennte uns. Es war Veronica Dentman – das wusste ich genau –, obwohl sie nicht einmal annähernd so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war klein, beängstigend dürr mit großen dunklen Augen und schwarzen Haaren. Sie war vielleicht achtunddreißig, vierzig allerhöchstens, wirkte aber aufgrund des traurigen Blickes und ihrer abgehärmten Züge viel, viel älter.
Diese großen, umherschweifenden Pupillen bannten mich.
Ich wartete darauf, dass sie die Initiative ergriff, doch sie starrte mich nur an. »Miss …, ähm, Veronica Dentman?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Wer sind Sie?« Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen, beinahe wie ein einziges. Ich erhaschte einen Blick auf ihre schlechten Zähne.
»Tut mir wirklich leid, sie zu stören, Ma‘am. Mein Name ist Travis Glasgow. Meine Frau und ich sind in Ihr altes Haus in Westlake gezogen.«