»Sie meinen das meines Vaters.« Die Kiste in meinen Armen fiel ihr auf. Dabei verfolgte ich mit, wie ihre Züge milder wurden; sie erkannte, was sich darin befand. Dann fixierte sie wieder mich, ein durchdringendes Schwarz, das sich durch das vom Moos grün gewordene Gitter bohrte.
»Tut mir leid«, wiederholte ich. Etwas anderes wusste ich nicht zu sagen. »Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
Veronica drückte das Fliegengitter mehrere Zoll weit auf; das Quietschen der Scharniere klang wie eine Katze, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde. »Sind das die Sachen meines Sohnes?«
»Ja, Ma‘am.«
Diese Suchscheinwerfer von Augen musterten mich erneut, sogen jede Nuance meines Äußeren auf, als wolle Veronica es für eine spätere Verwendung katalogisieren. Just als ich mir sicher war, sie werde mich zum Teufel jagen, öffnete sie das Gitter weiter und bat mich hinein.
Die Wohnung war zugestellt und entsprechend eng. Am Boden lag ein bräunlicher Zottelteppich, der geradewegs aus den Siebzigern stammen mochte, und die wahllos zusammengewürfelten Möbel wirkten wie sich gegenseitig fremde Menschen, die man gemeinsam in einen Wartesaal gezwängt hatte. Die Wände waren beinahe gänzlich kahl, die Vorhänge an den Fenstern aufgezogen. Von der Kochnische her roch ich schwach Kaffee, den sie wohl gerade aufbrühte. Die Lampen sorgten für kärgliches Licht, die Vertäfelung für eine Atmosphäre, bei der ich mich an einen Beichtstuhl in der Kirche erinnert fühlte.
»Hätte nicht gedacht, dass ich Ihre Adresse finde«, bemerkte ich im Versuch, Konversation zu betreiben.
»Wer hat Sie geschickt?«
Die Frage erwischte mich kalt, sodass ich ins Stottern geriet. »Eigentlich, äh … niemand.«
»Weshalb sind Sie dann hier?«
»Um Ihnen das hier zu bringen.« Der Karton wurde immer schwerer in meinen Armen, weshalb ich sein Gewicht unbehaglich von einem auf den anderen verlagerte.
»Stellen Sie es dort ab«, bat sie mit einem Fingerzeig in Richtung eines runden Tisches nicht weit weg von der Haustür, den man wohl einmal zum Kartenspielen verwendet hatte.
Ich stellte die Kiste auf mehrere Briefumschläge, die allesamt an David Dentman adressiert waren. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre ich nicht darauf gekommen, dass sie womöglich noch mit ihrem Bruder zusammenlebte.
Ich steckte die Hände in meine viel zu kleinen Hosentaschen und drehte mich zu Veronica um. Sie sah so ungesund schmächtig aus, dass man glauben konnte, ihr mausgraues Hauskleid, das sie bestimmt selbst geschneidert hatte, hänge nach wie vor am Wäschehaken. Sie hatte lange, streichholzdünne Arme; unter ihrer Haut zeichneten sich die Adern allzu deutlich blau ab. Als sie glaubte, ich schaue nicht hin, klemmte sie ihre verlotterten Strähnen hinter die Ohren, und ich sah dabei, dass sie eine lange Narbe hatte. Diese fand ihren Ursprung deutlich über dem Haaransatz, streifte die linke Schläfe und kräuselte sich auf der gleichen Seite ums Ohr.
Was blieb mir übrig, außer meine Stimme wiederzufinden? »Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Mit den Kartons meine ich. Es sind so viele, und ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Überhaupt dachte ich, Sie … vielleicht … ich fühle wirklich mit Ihnen.«
»David hat sie unten ins Zimmer gestellt, nicht wahr? Das hinter der Mauer.«
»Ja«, antwortete ich. »Im Keller. Was … was hat es mit dem Raum auf sich?«
In der Küche zischelte etwas, woraufhin es nach verbranntem Kaffee zu stinken begann.
Veronica sagte kein Wort. Sie wandte sich nur ab und schwebte wie ein Geist – sie trug keine Schuhe – in die Küche.
Ich hielt den Atem an, da hörte ich die Kaffeekanne klappern, und nacheinander Schränke auf- und zugehen, deren Angeln genauso geräuschvoll nachgaben wie die der Fliegentür. Solange sie nicht im Raum war, betrachtete ich alles genauer. Es roch und fühlte sich geradezu nach der Bleibe eines Menschen an, der sein Kind verloren hatte, nach Abschottung von der Außenwelt und Stagnation. Ich musste an ausgelaugte Batterien denken. Allerdings gab es da noch etwas; um darauf zu kommen, brauchte ich länger, aber zuletzt dämmerte es mir: Was vollkommen fehlte, waren persönliche Gegenstände. Keine Fotos, keine Zeitschriften, keine Bücher, Krimskrams. Einzig der Fernseher gehörte zu den Dingen, die nicht bloß praktischen Nutzen besaßen; er war auf stumm geschaltet und strahlte gerade QVC aus.
Veronica kehrte mit einer großen Tasse dampfendem, schwarzem Kaffee zurück, die sie andächtig wie eine Nonne beim Austeilen der Kommunion vor sich hielt. Sie bot sie mir wortlos an.
»Danke«, sagte ich. Mir war klar, dass ich fast flüsterte, als hätte ich Angst davor, dieses fragile Geschöpf mit lauter Stimme in die Flucht zu schlagen.
»Möchten Sie etwas von mir?«, fragte sie. »Sind sie deswegen gekommen?«
»Nein, ich sagte doch, ich wollte Ihnen nur ein paar von Elijahs Sachen wiederbringen.«
Als ich den Namen nannte, zuckte sie zusammen.
»Ich habe nichts weggeworfen«, fuhr ich fort. »Es steht alles noch im Keller. Meine Frau will, dass ich es fortschaffe, also suche ich Sie auf, um mich zu vergewissern, dass Sie es nicht zurückhaben wollen.«
»Reden wir nicht über das Zeug.«
»Okay.«
Von irgendwoher draußen näherte sich ein Fahrzeug. Veronica fuhr schreckhaft mit dem Kopf zum Eingang herum. Der Motor ging aus und ich hörte eine Autotür zuschlagen. Als sich Veronica wieder mir zuwandte, machte sie ein Gesicht, als sei sie gerade Zeugin eines grausigen Unfalls geworden.
»Ist das David?«, wollte ich wissen. »Ihr Bruder?«
»Sie hätten nicht herkommen dürfen.«
»Ich wollte Sie bestimmt nicht in Verlegenheit bringen.«
»Es ist nicht gut, dass Sie hier sind.« Sie entzog mir die Tasse, ein Schwall der dicklich braunen Flüssigkeit verbrannte mir die Hand. »Sie sollten nicht hier sein.«
Die Eingangstür ging auf. Ich hatte nicht bemerkt, wie düster es überhaupt war, als nun die Sonne hereinflutete, wie ein Fingerzeig Gottes. Ich zuckte zusammen. Der Mann, der im Türrahmen innehielt, sah urwüchsig aus mit seinen breiten Schultern; die Umrisse gehörten wahlweise zu einem Holzfäller oder wandelnden Betonlaster.
Ich nickte einmal kurz und eindeutig dem Neuankömmling zu.
David Dentman betrat das Haus und ließ das Fliegengitter hinter sich zufallen. Er hatte helle Haut und grobschlächtige Züge, sandfarbenes Haar und sehr helle, trist dreinschauende Augen, deren Farbe ich noch nie gesehen hatte. Sein Arbeiterhemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, seine sonnengebräunten Arme hätten genauso gut Pythons sein können, die sich aus seinen Ärmeln wanden.
»Was geht hier vor?«, fragte er niemanden direkt.
»Ich bin Travis Glasgow.« Ich verhaspelte mich fast und hatte zu schwitzen begonnen, nur teilweise des Fiebers wegen, von dem ich wusste, dass es in mir aufkeimte. »Meine Frau und ich sind in Ihr ehemaliges Haus in Westlake gezogen.«
»Glasgow«, wiederholte er, als müsse er sich den Namen einprägen. Eine seiner jedem Ringer Ehre machenden Pranken verschwand hinter dem Rücken. Er kramte in der Gesäßtasche seiner Hose.
Eine Sekunde lang setzte mein Herzschlag aus, denn ich war mir sicher, dass er gleich ein Messer ziehen und mich bedrohen würde, doch er holte nur eine abgegriffene Ledergeldbörse hervor, die fast so dick wie ein Taschenbuch war, und warf sie neben die Pappkiste auf den Tisch.
»Das Haus gehörte meinem Vater«, sagte er sachlich nüchtern. Genau wie seine Schwester es getan hatte. »Kann ich etwas für Sie tun, Mister Glasgow? Sind Sie den ganzen Weg von Westlake bis hierher gekommen?«
»Ich wollte bloß ein paar Dinge vorbeibringen.«
Dentman widmete sich dem Karton. Er schien die Gegenstände sofort wiederzuerkennen.