In einem anderen Traum kroch ich aus dem Bett und schwebte über den Flur. Unten hörte ich jemanden sprechen, unwirklich nur, wie ein Phantom. Als ich mich über den Treppenabsatz bewegte, hielt ich mich mit beiden Händen am Geländer fest und schaute hinunter. Dort wich ein Schatten an die Wand zurück, also drehte ich mich um und glitt über die Stufen auf die Diele. Die Stimme wurde ein wenig lauter, da wusste ich intuitiv, dass es Jodie war, die da redete.
Während es mich ins Wohnzimmer zurückzog, kam ich mir einmal mehr vor wie im halluzinogenen Wahn, und dies wiederum trotz des Bewusstseins, dass ich träumte. Meine Füße streiften den Teppich allenthalben, und mein Kopf kam einem Heliumballon gleich. Ein brutaler Wind peitschte im Wohnzimmer und blies die Gardinen durch die geöffneten Fenster in den Vorgarten hinaus, wobei ich mich kurz fragte, woher er überhaupt rührte. Von dort, wo ich innehielt, sah ich Jodie von hinten auf dem Sofa sitzen. Ich näherte mich, lauschte ihrer Worte … und realisierte, dass sie eigentlich nichts sagte, sondern leise und gefühlvoll sang, liebreizend und wohltönend. Meine Mutter hatte ähnliche Weisen geträllert, als ich noch klein war.
A, du bist liebenswert!
B, du bist so wunderschön.
C, du bist ein Kind voll Charme!
D, du bist so entzückend.
E, du bist so aufregend!
F, du bist eine Feder in meinen Armen …
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Stimme stockte. Dann starrte ich hinab auf ihren Schoß … wo kurz, kurz das Bild eines Jungen aufflackerte, den sie in ihren Armen wiegte, ehe es wieder erlosch.
»Wo ist er hin?«, fragte ich.
»Er wird wieder zurückkommen«, sprach Jodie leise und fing wieder zu summen an.
»War er …?«
»Ja«, antwortete sie. »War er.«
»Ich ahnte, es könne vielleicht sein.«
Ihr Säuseln entspannte.
»Du singst wunderschön«, sagte ich ihr.
Das brachte sie zum Lächeln. Ich spürte es, ohne es zu sehen.
»Danke.«
»Zu dumm, dass ich bloß träume«, bedauerte ich.
»Nein«, behauptete Jodie. »Tust du nicht.«
Kapitel 18
Wenn man dem Alltag entflieht, bemerkt man, dass sich die Welt ebenso zurückzieht. Alles, was am Ende übrig bleibt, ist graue Leere. Sie wuchert in einem wie eine Krebszelle, wie eine Probe kranken Gewebes in einer Petrischale. Man schaut in sich hinein und erkennt es, das klaffende, trübe Loch im Kern seiner selbst. Wenn man so starrt, sieht man sich irgendwann selbst zurückstarren.
Ich war du, sagte Jodie. Ist das nicht witzig?
Man gerät in Vergessenheit, wird von Luft ersetzt, von Molekülen und Partikeln elektrischen Lichts. Man wurde gelöscht, entfernt. Ein Geräusch, fast wie wenn etwas platzt, begleitet euer Verschwinden, wenn jene Teilchen die Stelle einnehmen, die ihr noch eine Millisekunde zuvor ausgefüllt habt. So decken sie Zeit und Raum ab, radieren jedwede Erinnerung an euer Leben als Mensch aus. Man existiert nicht mehr.
Ist das nicht witzig?
Im Zuge dieser Selbstisolation wird man sich der Tatsache bewusst, dass man nie wirklich da war – nie richtig auf der Welt gewesen ist, denn die Natur kennt kein Aussterben, also bedeutet das Verschwinden, dass man von vornherein nie gelebt hat.
Ins Land der Lebenden kehrte ich an einem Mittwoch zurück. Im Haus herrschte Stille, denn Jodie war am College. Ein weiterer Sturm hatte die Stadt heimgesucht und im Schnee begraben und die Kiefern in der Ferne sahen aus wie weiße Spitzhüte von Hexen.
Im Haus war es eiskalt, obwohl das Thermostat konstante zwanzig Grad verhieß, aber ich traute ihm längst nicht mehr. Meine Krankheit hatte mir arg zugesetzt und mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, und der Geschmack auf meiner Zunge entsprach dem des Inhalts eines Aschenbechers, also begab ich mich in die Küche und setzte Kaffee auf.
Nach der zweiten Tasse ging es mir besser. Ich entschloss, den Steins einen Besuch abzustatten, um etwas über die Dentmans zu erfahren. Nach meinem Abstecher zu Veronica und David in West Cumberland am Sonntag war es für mich allzu offensichtlich, dass etwas mit dieser Familie ganz und gar nicht in Ordnung war. Die bizarre Charakterzeichnung der fiktiven Dentmans aus meinen Notizbüchern wurde der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht. Adam hatte mir alles, was er wusste, über sie erzählt, doch das genügte nicht. Als unmittelbare Nachbarn mussten die Steins viel vom Familienleben nebenan aufgeschnappt haben. Ich war begierig darauf, möglichst alles in Erfahrung zu bringen, sowohl für mein Buch als auch zur Befriedigung meiner wachsenden Neugierde.
Die Geschichte, die sich in meinen Aufzeichnungen herauskristallisierte, beschrieb einen gebeutelten Jungen, der von seiner geistesgestörten Mutter sowie einem Onkel, der sich am Quälen seines Neffen erfreute, in einem Kellerverschlag gefangen gehalten wurde. Irgendwann ist der Junge alt genug, um seine Meinung auszusprechen, weshalb sich sein Onkel – mein David-Dentman-Charakter, um Kontinuität zu wahren, hatte ich ihn ebenfalls so genannt – zum Handeln gezwungen sah. So brachte er den Jungen um und ließ es wie einen Unfall aussehen. Bis dorthin hatte ich es ausgearbeitet, drei Notizblöcke voll mit meinem manischen Gekritzel, doch inwieweit ich damit ins Schwarze traf, wusste ich nicht sicher …
Das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende klang so alt und kratzig, wie ein verwitterter Kartoffelsack aussah. »Bin ich richtig bei Travis Glasgow?«
»Ja. Wer spricht denn?«
»Nun Mr. Glasgow, mein Name lautet Earl Parsons, und ich schätze, Sie können mich als Westlakes Antwort auf die Watergate Reporter Woodward und Bernstein bezeichnen. Ich erhielt einen Anruf von Sheila Brookner – einen Hinweis, wenn Sie so wollen – und erfuhr, dass eine echte Berühmtheit unter uns weilt.«
»Sheila Brookner?«, wiederholte ich unverständig. Dann fiel es mir ein: »Oh.« Sie war die Bibliothekarin, die mir das Zeitungsarchiv gezeigt hatte. Einen verrückten Moment lang dachte ich, der Kerl wolle mich des herausgerissenen Artikels wegen belangen.
»Sie meinte, Sie hätten die Bibliothek aufgesucht, um für ein neues Buch oder so etwas in der Art zu recherchieren.«
»Hmmm, so etwas in der Art.« Ich ließ mir seinen Vergleich mit Woodward und Bernstein durch den Kopf gehen, ehe ich schlussfolgerte: »Sie sind Journalist.«
Earl Parsons lachte wie ein alter Traktor, den man bei Kälte auf Hochtouren zu bringen versucht. »Ach, Sie machen mich richtig verlegen, wenn Sie das behaupten. Ich bin eigentlich ein pensionierter Arbeiter einer Mühle und freier Mitarbeiter für The Muledeer, wo ich eine Menge zu tun habe und immer wieder feststelle, wie klein unsere Stadt doch ist. Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben, dass meine Kollegen größtenteils Studenten der Journalistik vom College sind.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Eine Bekanntheit wie Sie schlägt ihre Zelte nicht alle Tage in Westlake auf.« Er gackerte erneut. »Eigentlich überhaupt nicht.«
»Bekanntheit ist etwas übertrieben, finde ich. Ich habe nur ein paar Horrorromane verfasst.«
»Von denen ich einen gerade lese«, erwiderte Earl, vielleicht um mich zu beeindrucken, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass er log. »Schauriges Zeug, das steht fest.«
»Ja, sie sind gruselig«, entgegnete ich.
»Ich habe vor, eine nette Story fürs Feuilleton über Sie zu schreiben, falls Sie es erlauben. Dass Sie hergezogen sind, ist vermutlich die aufregendste Nachricht seit Dolly Murphys Sieg beim Kuchenesswettbewerb im vergangenen Herbst.«