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Vom Ufer aus befand sie sich nur ungefähr zwanzig Meter weit draußen und ich musste sie mir einfach genauer anschauen. Wider besseres Wissen trat ich auf die Eisdecke des gefrorenen Sees. Ich prüfte zaghaft, ob mich die Schicht tragen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde zogen Bilder an meinem geistigen Auge vorüber, auf denen ich in schwarzem Wasser versank, gefangen unter dem Eis und nach Luft ringend, bis meine Lungenflügel zu zerreißen drohten. Ich stellte mir vor, wie ich kurz vor der Ohnmacht nach oben in die Freiheit drängte und verzweifelt mit dem Kopf gegen die gefrorene Schicht stieß, um dem unvermeidlichen Tod zu entgehen.

Aber das Eis schien meinem Gewicht standzuhalten. Ich bewegte mich weiter vorwärts, wobei ich mehr rutschte als ging, weil ich zu viel Angst hatte, die Füße anzuheben.

Beim Näherkommen nahm das Ungetüm Gestalt an: ungefähr zehn Fuß hoch und vier breit, robust aus verblichenen Brettern gebaut. Sie war geschichtet – schräg – auf einer Seite.

Es war eine Treppe.

Wenige Fuß davor blieb ich verblüfft stehen.

Eine Treppe erhob sich geradewegs aus dem See.

Die Planken glichen dem Holz, mit dem man eine Veranda baute. Sie waren verwittert und schienen mit frostig weißem Schimmel überzogen. Die Treppe stand nicht auf dem Eis, sondern erhob sich hindurch, wie Jodie es am Nachmittag vom Schlafzimmer aus richtig abgeschätzt hatte. Das Eis am Fuß der Stufen war geschmolzen, hinterließ ein offenes Loch matschig schwarzen Wassers, dass die Konstruktion zwei bis vier Finger breit umgab.

Ich machte einen weiteren Schritt und brach ein.

Mein Atem stockte, und ich hörte, wie mein Fuß ins Wasser platschte. Schlagartig spürte ich mein Bein bis zur Mitte taub werden. Ich kippte vornüber und konnte den Fall nicht bremsen. Mein Herz schlug unregelmäßig, als ich die Hände instinktiv ausstreckte und es schaffte, mich am Rand der aufragenden Treppe festzuhalten. Es bewahrte mich davor, tiefer im Eis zu versinken. Während ich mich an das Holz klammerte, kam ich wieder zu Atem. Dann hob ich mein nasses und nahezu gelähmtes Bein aus dem Loch und richtete mich vorsichtig auf.

Die eisige Nachtluft ließ das Wasser an meinem Bein sofort gefrieren und der dünne Stoff meines Schlafanzugs lag darauf wie eine zweite Haut. Ein frierendes Brennen lief mein Bein herauf bis in den Schritt, und meine Kronjuwelen zogen sich erneut zurück. Mein ganzer Körper zitterte.

Dummerweise verlor ich das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf meine linke Seite. Ich fiel unsanft, meine Zähne schlugen aufeinander. Ich hörte, wie etwas brach, und wusste nicht, ob es das Eis unter meinem Gewicht war oder meine Knochen. Der Stummel meiner Zigarette flog weg, und ich sah in Zeitlupe, wie die Glut durch die Luft wirbelte. Eiswasser schwappte gegen meine Rippen und meine Arme. Wie im Traum neigte sich der Grund unter mir: Die Oberfläche war aufgesprungen und brach auseinander.

Ich äußerte eine Reihe deftiger Flüche und wälzte mich auf den Rücken, um dem immer breiter werdenden Spalt zu entrinnen. Selbst beim Rollen hörte ich es weiter wie ein Holzfeuer knacken.

Ich robbte von der Bruchstelle weg, bis mir mein Gefühl vermittelte, dass ich in Sicherheit war und liegen bleiben konnte. Also tat ich es. Ich hielt die Augen geschlossen, obwohl ich mich gar nicht daran erinnern konnte, sie überhaupt zugemacht zu haben. Rasselnd holte ich Luft, meine Kehle war wie zugeschnürt.

Dann, aus welchen Gründen auch immer, fing ich zu lachen an.

Ich verdammter Irrer.

Ich drehte mich auf die Seite und kroch zum Ufer, dabei bebte ich vor unterdrücktem Gekicher. Sobald ich nahe genug war, griff ich nach einem Ast, der über den See ragte. Als meine Füße endlich Halt fanden, zog ich mich hoch und spürte wieder festen Boden unter mir. Obwohl mich keine Menschenseele beobachtet hatte, fühlte ich mich wie ein Schwachsinniger.

Hinter den Bäumen vor mir brach ein Zweig.

Ich stockte. Erneut war mir, als ob sich etwas zwischen den ineinander verhakten Ästen bewegte, doch genau sagen konnte ich es nicht. »Hallo?«, rief ich mit zittriger Stimme. »Ist da wer? Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.«

Niemand antwortete. Niemand regte sich.

Ich fixierte die Stelle im Geäst, ohne etwas zu sehen. Ein Reh vielleicht? Irgendein Waldkriechtier, das durchs Unterholz kroch? Was auch immer, wenn ich weiter darüber nachdachte, fror ich mir den Arsch ab.

Zitternd, wegen der Kälte, die meinen Körper langsam vom tauben linken Bein aus vereinnahmte, begab ich mich die verschneite Böschung hinauf zurück zum Haus.

Kapitel 5

Es heißt, die Natur kenne kein Aussterben – wenn man einmal gelebt habe, existiere man ewig, und zwar jeder einzelne Teil des Selbst, ob gesondert oder als Ganzes mit allen anderen. Mag eine dicke Staubschicht auf der Menschheitsgeschichte lasten, so bleibt die Erinnerung dennoch unbescholten.

Man stelle sich einen geräumigen, quadratischen Konferenzsaal vor, mit blaugrünem Teppich und alabasterner Akustikdecke. Schaut euch um. Ihr bemerkt, dass die Bänke aus Mahagoni unter den heißen Scheinwerfern glanzlos geworden sind. Herein gelangt man durch zwei breite Doppeltüren mit schräg angebrachten Messinggriffen, die jemand frisch poliert hat.

An der hinteren Wand steht betont würdevoll eine Menschentraube in einer Kleidung, die sie unsinnigerweise für ihre förmlichste halten, und pendeln unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Die Männer mit unbeholfen gescheiteltem Haar, eingefettet und nach hinten gekämmt. Die Handflächen der Frauen mit halbmondförmigen Einkerbungen übersät, weil sie verbissen die Fäuste ballen. Ihre Frisuren sind aus der Mode, und die Tatsache, dass ihnen das nicht auffällt, weist sie allzu deutlich als bornierte Kleinstädter aus. Das sind die Leute meiner Mutter, die aus Amerikas Vororten stammen und endlich zu dieser Gelegenheit in der Metropole zusammenkommen, der Welt meines Vaters.

Gegenüber im Saal steht eine Art breite Bühne, einzelne Pulte und Bänke aus Teak mit fleckigen Korduan-Polstern. Das Holz ist erst kürzlich mit Schellack gewachst worden. Dort sitzen eine Menge Leute oder stehen dichtgedrängt im Hintergrund, als wollten sie sich gegenseitig Wärme spenden. Für die Erzählung genügt es, wenn ich mich auf vier Personen beschränke, denen wir uns eingehender widmen werden: Zuerst ist da der Vater, ein Mann mittleren Alters mit leerem Blick und Falten im Anzug, die seinen Gram widerzuspiegeln scheinen; die Mutter hat offenbar ebenfalls Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren und ihre Augen überhaupt auf irgendetwas zu fokussieren, obwohl sie verbissen vor sich hinstarrt. Bleiben noch die beiden heranwachsenden Söhne des Paares, von denen der dreizehnjährige Junge mit den abstehenden Ohren und fahrigen Händen besonders auffällt.

Er sucht den Blick seines Vaters. Sein Mund ist ausgetrocknet, er hatte nicht bemerkt, dass er die Schlaufe, an welcher der Plastikknopf seines Blazers befestigt war, aufgemacht hat, weshalb er den Knopf nun krampfhaft mit dem rechten Daumen und Zeigefinger festhält. Just bevor er ihn an seine Lippen führt, zuckt seine Hand wieder, und der Knopf fällt auf den Teppich.

Er merkt, dass niemand unter den Trauernden dieses Malheur aufgefallen ist, außer ihm selbst. Irgendwie empfindet er dies als tröstlich, als verheiße es ein sicheres Versteck weit weg von allen Menschen – selbst seinem Vater, seiner Mutter, seinem älteren Bruder sowie dem kalten Leib des jüngeren, dem Kleinsten der Familie, der vorne im Sarg aufgebahrt liegt. Schaut er nun hinüber in die ausnahmslos steifen, stoisch starrenden Gesichter, fürchtet er sich nur geringfügig weniger.

Es ist ein Kommen und Gehen auf dieser Welt.