Adam fasste mir an die Schulter. »Du hattest recht, weißt du.«
»Vielleicht«, sagte ich. »In manchen Dingen.«
»Nein«, beharrte Adam. »In jeder Hinsicht. Wie du selbst sagtest: Des Rätsels Lösung lag in der Treppe, und dieser Geheimgang führt hinter der Wand bis unter die Treppe. Damals am See hast du einfach die falsche Treppe erwischt.«
Getrieben von einer schwer zu erklärenden Treue rief ich Earl an und bat ihn, die Kamera sowie seinen besten Schreibblock mitzubringen. Als er am Ort des Geschehens eintraf, schoss er Fotos von der Stelle, an der die Polizisten die Wand im Obergeschoss aufgebrochen hatten. Auch den Gang zwischen den Wänden, in dem Elijahs Leichnam verborgen gewesen war, knipste er.
Bevor Earl wieder aufbrach, umarmte er mich mit einem überraschenden Maß Emotion, dann hielt er mich auf Armeslänge fest, während er grinste. »Wenn das vorbei ist, werden Sie wegziehen«, meinte er.
»Wir können nicht bleiben.«
»Danke, dass Sie mir das gegeben haben.«
»Sie haben es erst möglich gemacht«, erinnerte ich ihn.
Earl sah aus, als wolle er noch etwas Herzliches und Rührseliges sagen. Was er vielleicht auch getan hätte, wenn wir dazu gekommen wären, uns besser kennenzulernen. Aber so wie es war, waren wir einander mehr oder weniger fremd, am Ende blieb es bei einem kräftigen Händeschütteln mit begleitendem Nicken. »Sie behalten meine Telefonnummer«, wies er mich an. »Melden Sie sich hin und wieder.«
Ich versprach es ihm. »Passen Sie auf sich auf«, fügte ich hinzu und sah ihm nach, wie er durch den schwindenden Schnee zu seinem Altwagen trottete.
(Seinen Zeitungsartikel sollte später die Presse landesweit übernehmen, was Earl zum ersten und gleichzeitig einzigen Mal auf breiter Ebene ins Rampenlicht rückte. Und ja, ich blieb mit ihm in Kontakt … bis er eines Nachts anderthalb Jahre später einen tödlichen Schlaganfall erlitt.)
Als er davonfuhr, fühlte ich mich leer.
Adam kam irgendwann gegen Mitternacht zurück. Alle im Haus schliefen, inklusive Jodie, die auf der ausziehbaren Couch im Wohnzimmer lag. Ich hatte in der Küche ein Lager aufgeschlagen und das Licht gelöscht. Der Kleinbildfernseher flimmerte ohne Ton im Dunkeln.
»Hey. Du hast doch nicht etwa auf mich gewartet, oder?«
»Machst du Witze?«
»Wo ist Jodie?«
»Auf der Couch. Ihr geht es gut.«
»Und dir?«
Ich hielt eine Hand hoch, um ihm zu zeigen, wie stark ich zitterte. »Bereit um die Operation durchzuführen«, witzelte ich.
Adam knipste die Lampe über dem Becken an und drehte das Wasser auf. Er schrubbte seine Hände mit Spülmittel ab.
»Hast du Hunger?«, fragte ich. »Ich mach uns ein paar Sandwiches.«
»Yeah. Klingt gut, danke.«
Ich öffnete den Kühlschrank und nahm Truthahnbraten, Mayonnaise, einen halben Salatkopf sowie zwei Dosen Pepsi Light heraus. Auf der Arbeitsfläche lag ein Stück Weißbrot, von dem ich zwei dicke Scheiben ab- und in der Mitte durchschnitt. Dann fragte ich Adam, ob er großen oder nur wenig Hunger habe.
»Riesigen«, gab er zu, gerade als er sich die Hände am Küchentuch abwischte. »Weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt gegessen habe.«
Ich belegte das Brot dick mit Truthahnscheiben und streute etwas Pfeffer darauf. Über dem Spülbecken wusch ich den Salat und garnierte das Geflügel mit Blättern. Zuletzt bestrich ich die andere Hälfte des Brotes mit Mayonnaise. Nachdem ich die Teller auf den Tisch gestellt hatte, fiel mir auf, dass mein Bruder aus dem Fenster hinaussah, zwischen den Bäumen sprenkelten Lichter wie Stecknadelköpfe die Sackgasse. Die Cops hatten die Eingangslampen nicht ausgemacht.
»Keine große Sache.« Adam wandte den Blick nicht von draußen ab.
»Ich möchte es wissen.«
»Er starb an den Folgen eines schweren Schädeltraumas. Eine schwere Fraktur am Hinterkopf, die sich Elijah bei dem Sturz von der Treppe zugezogen haben könnte. Wenn die Ergebnisse der Autopsie vorliegen, wissen wir natürlich mehr, aber schon jetzt zeichnet sich relativ deutlich ab, was geschehen ist.«
Er drehte sich um und nahm am Tisch Platz, um gemeinsam mit mir zu essen.
Mehrere Minuten vergingen, bis Adam weitersprach. »Kein Erwachsener würde in diese Nische passen. Nicht Veronica, geschweige denn David.«
»Ich weiß.« Überraschend war es nicht. Ich hatte schon am Nachmittag darüber nachgedacht. »Er muss dort hineingekrochen sein, nachdem sie ihn ins Haus getragen hatte. Als sie ihm den Rücken kehrte, zog er sich in sein Geheimversteck zurück.« Ich redete, ohne mir selbst zuzuhören. Nebenbei erinnerte ich mich wieder an die Geschichte, die mir Althea Coulter im Krankenhaus erzählt hatte, wie sie die Dentmans zwei Tage hintereinander besucht hatte, ohne den Jungen anzutreffen. Dass David jedes Mal persönlich zur Tür gekommen war, mutete schon skurril an, doch am dritten Tag hatte es obendrein geheißen,
Elijah sei schlicht fort gewesen.
»Der Bezirksstaatsanwalt hat die Anklagen gegen beide fallengelassen«, erzählte Adam mit Mayonnaise im Mundwinkel. »David könnten sie zwar belangen, weil er die Polizei belogen hat, doch sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Strohman sind übereingekommen, dass die Sache eine einzige Schande sei, weshalb man sie so schnell wie möglich unter den Teppich kehren und abhaken wolle.«
»Was wird nun mit den beiden geschehen?«
»Weiß nicht. Schätze, man lässt sie ihr Leben weiterführen. Zumindest kennen wir jetzt die Wahrheit.«
Die Vorstellung, der Junge sei wie ein verwundetes Tier zum Sterben in seine Höhle gekrochen, überstieg mein Fassungsvermögen. Aus welchen Gründen auch immer wäre ich leichter damit fertiggeworden, wenn ihn jemand umgebracht hätte.
»Hör mal«, sagte Adam, als er aufstand und seine Hose hochzog. »Wieso gehst du nicht rüber und haust dich aufs Ohr?«
»Werde ich, aber jetzt noch nicht.«
»Das ist mein kleiner Bruder. Ständig nachdenklich.« Er kratzte sich die Stirn, wirkte mit einem Mal so alt, dass mir Tränen in die Augen traten. Er lächelte erschöpft und ging aus der Küche. Dann drehte er sich noch einmal um, sein Gesicht verhüllt im Dunkel. »Lässt dich das mit seinem Tod abschließen?«
Ich wusste, Adam meinte nicht Elijah. Nach einem Moment sagte ich: »Ich weiß es nicht.«
»Entschuldigung«, sagte Adam.
»Wofür?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht genau.«
»Wie auch immer … danke.«
»Ich liebe dich, Bro.«
»Yeah«, erwiderte ich, »Ich liebe dich auch.«
Fünf Minuten später schlüpfte ich nur noch in Unterwäsche und Socken unter die kühlen Laken auf die Ausziehcouch meines Bruders. Ich gab acht, Jodie nicht zu wecken, doch als ich meinen Kopf aufs Kissen legte und ihrem Atem lauschte, erkannte ich, dass sie wach war.
»He du«, murmelte ich.
»Du weißt, dass wir nicht hierbleiben können«, flüsterte sie mit dem Rücken zu mir.
»Ich weiß.«
»Er wird dir fehlen.«
Für einen kurzen Moment, dachte ich, sie meinte Elijah Dentman und meine Besessenheit zu ihm.
Als würde sie meine Gedanken lesen und müsse mir Klarheit verschaffen, präzisierte sie: »Adam.«
Ich schloss meine Augen. »Ja.«
»Es ist so traurig. Das war die Gelegenheit, euch wieder näherzukommen.«
Zu meiner Verwunderung musste ich gegen Tränen ankämpfen.
»Jodie?«
»Was ist?«
»Ich muss dir etwas sagen.« Meine Stimme erstarb wie ein verglühender Stern. »Es geht um Kyle … was damals wirklich geschehen ist.«
Sie rutschte dichter zu mir. Ich spürte ihre Wärme. »Gut«, entgegnete sie. »Darauf warte ich schon lange.«