David Dentman lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Seine Stirn troff vor Schweiß. Er hob sein Schnapsglas und betrachtete es genau, als enthalte es den letzten Drink, den er zu sich nehmen sollte.
»Auf Väter«, toastete er.
Als Adam eintraf, saß ich immer noch am Tisch, obwohl Dentman längst gegangen war. Adam trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Ich fuhr erschrocken in die Höhe, wobei fast der Bourbon vom Tisch auf den Boden kippte, wo sich das Zeug vermutlich durch die Bretter geätzt hätte.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er.
»Vergiss es.«
»Alles in Ordnung?«
»Bestens«, beteuerte ich mit einem Lächeln. »Setz dich und trink einen auf deinen kleinen Bruder, bevor er dich für das sonnige Kalifornien verlässt.«
Adam setzte sich, nahm die Flasche zur Hand und verzog das Gesicht. »Was ist das für ein Zeug?«
Ich schob ihm ein leeres Gläschen zu. In der Jukebox begann ein Bruce-Springsteen-Song mit Mundharmonika. »Trink einfach.«
Wir verbrachten die Nacht in vollkommenem Schweigen, dachten an so viel und mussten doch nichts davon aussprechen.
Wie Brüder.
Epilog / Prolog
Wir waren ein Mückenschiss auf der Weltkarte. Könnt ihr uns sehen? Wir krabbelten wie ein Leuchtkäfer auf kartografiertem Gelände und reflektierten das silbrige Sonnenlicht in gleißenden Strahlen, stießen Abluft aus, schlingerten durch Kurven, bewegten uns im Slalom oder über lange Geraden, als seien wir auf Meilen hin das einzige, was zählte. Vielleicht war es auch so. Der kleine Honda brummte unter der Bürde unserer Flucht weiter und lag dabei tief genug, um an manchen Pässen mit dem Fahrwerk aufzusetzen.
Seht genauer hin, und ihr entdeckt uns – mich mit Sonnenbrille, frisch geschnittenem Haar und glattrasiert hinterm Steuer wie Tom Cruise oder meinethalben auch Tom Sawyer. Neben mir Jodie, die die Anlage mit Tom Petty, Sheryl Crow und Better Than Ezra speiste, dabei glatt, fit und unberührt aussah sowie sauber nach Seife duftete. Die Tage waren lang und sonnig, die Himmel nicht von einer Wolke getrübt. Nachts wurde es hingegen angenehm frisch. Die Landschaft, die sich uns offenbarte, wirkte neu und gleichsam unberührt; alles – ja, wirklich alles – kam uns so vor.
Gelegentlich schaute ich in den Rückspiegel, während mein Gehirn immer noch am letzten Bild der Familie meines Bruders festhielt, die uns beim Verlassen der Sackgasse hinterhergeschaut hatte. Wir hatten zum Lebewohl gewunken, um Westlake auf ewig den Rücken zu kehren, mit offenem wie gebrochenem Herzen, aber dennoch voller Hoffnungen und Erwartungen mit Bezug zu allem, was auf uns zukommen mochte – und umarmt hatten wir uns. Bleib sauber, kleiner Bruder. Jetzt steuerten wir ein fremdes County in einem fremden Bundesstaat an, und die ländliche Idylle von Westlake war nichts weiter als ein vergänglicher Traumschatten. Einmal glaubte ich, sie alle noch einmal in dem kleinen Rechteck aus Spiegelglas winken zu sehen.
Wir machten an Raststätten in vergessenen Ortschaften und sonstigen unwirklichen Gefilden Halt, um fettige Hamburger zu essen, die dick wie Bibeln waren, und so verbissen Milchshakes zu schlürfen wie Erzrivalen bei einem Trinkwettbewerb.
Die erste Nacht verbrachten wir in einem kleinen Stundenhotel direkt am Highway. Die Sterne am Himmel leuchteten zu Millionen, weshalb wir eine Zeit lang einfach nur auf dem Parkplatz verharrten und nach oben starrten. In einer nach Schimmel riechenden Nasszelle duschten wir gemeinsam, ehe wir in einem fremden Bett Liebe machten, und sobald Jodie eingeschlafen war, schlich ich wieder nach draußen, um mich einmal mehr am Anblick des Firmaments zu weiden.
Falls ihr gern der Annahme aufsitzt, zu wissen, wie die Dinge stehen, oder zumindest glaubt, dass ihr es tut, und damit zufrieden seid, so schließt die Augen. Lebt so weiter und haltet sie geschlossen.
In einer anderen Nacht in einem gottverlassenen Teil des Landes wachte ich auf, da ein Schrei in meinem Hals steckengeblieben war.
»Was ist los, Schatz?«
»Hatte einen schlechten Traum«, keuchte ich.
»Beschreibe ihn mir.«
»Wir spielten in einem meiner Bücher mit«, deutete ich an.
»Du bist ja ein einziges Wasser. Komm mal näher.«
Jodie hielt mich fest, um mich daran zu erinnern, dass sie real war, doch ich kam nicht umhin, mir zu sagen: Nichts von alledem ist real. Lass dich nicht von dir selbst täuschen. Nirgends gibt es ein solches Happy End. Es war die Stimme der Psychiaterin, die mich als Junge therapiert hatte. An jenem Tag auf der schwimmenden Treppe hast du den Verstand verloren, und Jodie ertrug es nicht mehr länger. Sie verließ dich, Travis, und den toten Knaben hast du nie gefunden, woran du schließlich auch zerbrochen bist. An Indizien mangelt es nicht; sie lagen von vornherein alle offen. Darin liegt die Wahrheit hinter der Fiktion begründet. Hier herrscht Klarheit, du weißt schon. Alles, was danach geschah, ist schlichtweg der Fantasie eines wehmütigen Autoren entsprungen, der die Zeit gern zurückdrehen würde und sich am liebsten anders verhalten hätte. Deshalb versucht er, seine Fehler auf die einzige Weise auszubügeln, von der er etwas versteht – indem er seine Geschichte neu schreibt. Lüge dir also nicht selbst in die Tasche.
Lass dich nicht von dir selbst täuschen.
Wir fuhren tagelang und vertrieben uns die Langeweile, indem wir die Songs mitsangen, die uns die wenigen verfügbaren Radiokanäle vorspielten. Irgendwo westlich von Mesa Verde, nachdem wir just die alte Route 666 hinter uns gelassen hatten, hörten wir einen Knall wie einen Gewehrschuss, und das Auto wurde durchgeschüttelt. Beim Weiterfahren auf dem Highway spürte ich, wie das Fahrgestell bockte. Jodie wurde nervös.
»Ein Plattfuß«, ließ ich sie wissen.
»Ausgerechnet hier draußen?«
Wir waren umgeben von Bergen und Wäldern. Der letzte Gegenverkehr hatte uns eine halbe Stunde zuvor passiert.
Ich beruhigte sie. »Im Kofferraum liegt ein Ersatzrad.«
So fuhr ich auf den Seitenstreifen, stieg aus und öffnete die Klappe am Heck. Zuerst einmal verbrachte ich zwanzig Minuten damit, Gepäck auszuladen, damit ich den Boden hochheben und den Ersatzreifen herausnehmen konnte. Die Klamotten, die wir hineingestopft hatten, waren so fest zusammengepackt, dass sie ihre quadratische Form sogar beibehielten, als ich sie auf den Asphalt legte.
Jodie ging an der Seite der Spur auf und ab, während ich den Wagenheber ansetzte und den Platten wechselte. Hier im Mittleren Westen war es extrem heiß, selbst so hoch über dem Meeresspiegel, und als ich fertig war, klebte mein Shirt am Brustkorb, weil ich Tapetenkleister zu schwitzen schien.
Unsere Reise konnte weitergehen, also winkte ich Jodie, die in der Ferne ein bloßer Punkt geworden war. Zudem erschien sie hinter dem Hitzeschleier, der sich von der Fahrbahn erhob, in meinem Blick verzerrt. Eine Sekunde lang verschwand sie sogar völlig.
Wir entschieden uns dazu, das erste Motel anzusteuern, an dem wir vorbeikamen.
»Ich muss morgen früh ein paar Anrufe erledigen und besorge uns einen neuen Reifen«, versprach ich.
Von der Herberge aus, in der wir letztlich aufschlugen, gab es auf der Gegenseite des Highways ein Restaurant namens The Apple Dumpling Diner. Es war ein Familienbetrieb und stand am Fuße mit Tannen gespickter Berge. Als wir dort aßen, bestellte ich ihren besten Wein, der sich als Cartlidge & Browne erwies, Pinot Noir für neun Dollar pro Flasche. Dazu bekamen wir gediegene Hausmannskost; diese Leute frittierten quasi alles. Zum Nachtisch reichte man eine Schale Pekannuss-Eis, die wir uns teilten, sowie eine Kanne Kaffee.