»Ich bin fürs Rekognoszieren«, antwortete Josella prompt.
»Gut. Ich auch«, willigte ich ein.
»Ich kenne mich hier aus«, fügte sie hinzu. »Hinter diesen Häusern gibt es einen Garten, von dem aus wir die Sache beobachten könnten, ohne mit hineingezogen zu werden.« Wir kletterten aus dem Wagen und hielten Ausschau nach einer offenen Tür in den Kellergeschossen. Im dritten fanden wir eine. Ein Flur führte durch das Haus in den Garten, der mehreren Häusern gemeinsam und seltsam angelegt war; er lag zum Teil in der Höhe der Kellergeschosse, also unterhalb des Straßenniveaus, stieg aber auf der der Universität zugekehrten Seite zu einer Art Terrasse an, die von der angrenzenden Straße durch ein hohes eisernes Gittertor und eine niedrige Mauer getrennt wurde. Das Geräusch der Menge war hier als ein dumpfes Gemurmel vernehmlich. Wir überschritten die Rasenfläche, gingen einen Kiesweg empor und fanden hinter einem Gebüsch einen günstigen Spähplatz.
Die Menge, die sich vor dem Universitätseingang staute, zählte nach Hunderten. Sie war viel größer, als man nach dem Geräusch erwartete. Zum erstenmal fiel mir auf, um wieviel stiller und passiver sich Blinde verhalten als eine gleiche Zahl von Sehenden. Sie können sich eben nur auf ihr Gehör verlassen, um etwas von den äußeren Vorgängen zu erfahren, so daß die Stille jedes einzelnen allen zugute kommt.
Was hier vorging, geschah ganz vorn. Wir entdeckten einen kleinen Hügel, von dem aus man über die Köpfe der Menge hinweg auf das Tor sehen konnte. Vor dessen Gitterstäben stand ein Mann mit einer Kappe, der heftig auf einen anderen, hinter den Stäben befindlichen Mann einredete. Er schien aber bei diesem nicht viel zu erreichen, denn der Anteil des anderen an dem Gespräch beschränkte sich auf ein wiederholtes verneinendes Kopfschütteln.
»Worum geht es?« fragte Josella im Flüsterton.
Ich half ihr, so daß sie neben mich zu stehen kam.
Der eifrige Sprecher wandte uns sein Profil zu. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig, er hatte ein knochiges Gesicht, eine schmale gerade Nase und dunkles Haar.
Doch das Auffällige an ihm war nicht sein Aussehen, sondern sein heftiges Gebaren.
Anscheinend führte das Gespräch durch die Gitterstäbe zu keinem Ergebnis, denn seine Stimme wurde lauter und schärfer – ohne aber auf den anderen Eindruck zu machen. Daß dieser andere sehen konnte, stand außer Zweifel; er blickte wachsam durch seine Hornbrille. Über die ein Stück hinter ihm stehende Gruppe von drei Männern gab es ebenfalls keinen Zweifel. Auch sie beobachteten die Menge und deren Wortführer mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Mann auf unserer Seite ereiferte sich. Er erhob seine Stimme, als seien seine Worte ebenso an sein Gefolge wie an die Leute hinter den Gitterstäben gerichtet.
»Jetzt hören Sie mir einmal zu«, sagte er zornig.
»Die Leute hier haben, verdammt noch mal, dasselbe Recht zu leben wie ihr. Oder nicht? Ist es ihre Schuld, daß sie blind sind? Niemand ist schuld. Aber ihr seid schuld, wenn sie hungern. Ich habe sie hingeführt, wo Nahrung zu haben war. Ich habe für sie getan, was in meiner Macht war. Aber, Herrgott, ich bin ja nur einer und ihrer sind Tausende. Auch ihr könnt ihnen zeigen, wo es Lebensmittel gibt – aber tut ihr es? Fällt euch gar nicht ein! Ihr kümmert euch nur um das eigene lausige Fell. Ich kenne euch. Erst komm ich, ist euer Motto, und nach mir die Sintflut.«
Er spuckte verächtlich aus und hob rhetorisch den Arm.
Er schwenkte die Hand. »Da draußen warten Tausende armer Teufel, daß ihnen jemand zeigt, wo sie Essen finden. Denn Essen ist da. Ihr braucht nichts weiter zu tun, als sie hinzuführen. Tut ihr es? Nicht ums Verrecken! Ihr sperrt euch hier ein und laßt sie hungern. Und dabei könnte jeder von euch Hunderte am Leben erhalten, wenn er bloß herauskäme und den armer. Tröpfen zeigte, wo sie sich sattessen können. Herrgott, seid ihr denn keine Menschen?«
Der Mann vertrat eine Sache. Und er vertrat sie mit Überzeugung und Leidenschaft. Ich spürte, wie Josella unbewußt meinen Arm umklammerte; ich legte meine Hand auf die ihre. Der Mann hinter dem Gitter sagte etwas, das wir auf unserem Standplatz nicht hören konnten.
»Wie lange?« schrie der Mann auf unserer Seite.
»Woher, zum Teufel, soll ich wissen, wie lange die Vorräte reichen? Ich weiß nur eins: wenn Kerle wie ihr alle Fünfe grad sein lassen, werden nicht viele leben, wenn Hilfe und Rettung kommt.« Er hielt erbittert inne. »Die Sache ist nämlich die: ihr habt Angst.
Angst, daß für euch nicht genug in der Futterkrippe bleibt, wenn ihr die armen Teufel mitessen laßt. Das ist der Grund. Das ist die Wahrheit, die einzugeste-hen ihr zu feige seid.«
Wieder konnten wir die Antwort der anderen nicht hören; sie schien jedenfalls den Anführer der Blinden nicht zu besänftigen. Er starrte eine Weile grimmig durch das Gitter. Dann sagte er:
»Also gut – ihr wollt es nicht anders haben!«
Er langte blitzschnell zwischen die Stäbe, faßte den Arm des anderen und zerrte ihn mit einem Ruck und einer Drehung durch das Gitter. Die Hand eines neben ihm stehenden Blinden ergreifend, klappte er sie auf den Arm.
»Halt fest, Kamerad«, sagte er und war mit einem Sprung beim Torriegel.
Der Überfallene erholte sich schnell. Mit der freien Hand schlug er wild zwischen die Stäbe. Dabei traf er zufällig das Gesicht des Blinden. Der schrie auf und packte noch fester zu. Der Anführer werkte am Torverschluß. In diesem Augenblick krachte ein Gewehrschuß. Die Kugel traf einen Gitterstab und schwirrte als Querschläger ab. Der Anführer stockte. Hinter ihm wurden Flüche laut, ein, zwei Aufschreie gellten.
Die Menge wogte vorwärts und wieder zurück, unentschieden, ob zur Flucht oder zum Angriff. Die Entscheidung kam durch die Gruppe im Hof. Ich gewahrte, wie ein jung aussehender Mann etwas unter den Arm klemmte, und warf mich, Josella mitreißend, zu Boden. Eine Maschinenpistole begann zu rattern.
Es waren offensichtlich in die Luft abgefeuerte Schreckschüsse. Aber das Prasseln und Schwirren der Kugeln tat seine Wirkung. Ein kurzer Feuerstoß genügte. Als wir die Köpfe hoben, war die Menge schon in Auflösung begriffen; die Blinden tappten nach allen Seiten davon, um sich in Sicherheit zu bringen.
Der Anführer schrie noch etwas Unverständliches, bevor er ebenfalls kehrtmachte.
Ich blieb sitzen, wo ich saß, und sah Josella an. Sie blickte mich nachdenklich an und sah dann zu Boden. Wir schwiegen einige Minuten.
»Nun?« fragte ich zuletzt.
Sie hob den Kopf, blickte über die Straße hinüber und dann auf die letzten, kläglich davonschleichenden Nachzügler der Menge.
»Er hatte recht«, sagte sie. »Sie müssen zugeben, daß er recht hatte?«
Ich nickte.
»Er hatte recht ... Und doch auch unrecht. Es wird nämlich keine Hilfe und Rettung kommen. Davon bin ich jetzt überzeugt. Wir können tun, was er vorschlägt. Könnten einige, aber nur einige der Blinden, mit Nahrung versorgen. Einige Tage lang, vielleicht ein paar Wochen. Und dann? Was dann?«
»Aber es kommt mir so furchtbar vor, so herzlos...«
»Wir haben, soviel ich sehe, zwei Alternativen«, erklärte ich. »Entweder versuchen wir zu retten, was zu retten ist – also auch uns selber: oder wir bemühen uns, das Leben der Blinden etwas zu verlängern. Das sind, objektiv betrachtet, unsere Möglichkeiten.
Ich kann mir aber nicht verhehlen, daß der humanere Weg wahrscheinlich eine Art Selbstmord ist. Wir verlängern das Elend von Menschen, von denen wir wissen, daß wir sie am Ende doch nicht retten können. Ist das der beste Gebrauch, den wir von unserem Leben machen können?«