Sie nickte langsam.
»Wenn man es so betrachtet, scheint uns nicht viel Wahl zu bleiben. Fragt sich noch, wen sollen wir retten? Dürfen wir das bestimmen? Und wie lange wird es überhaupt möglich sein, sie zu versorgen?«
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete ich. »Ich ha-be keine Ahnung, wie hoch der Prozentsatz an nicht ganz Arbeitsfähigen sein darf, wenn einmal die sofort greifbaren Vorräte erschöpft sind. Ich glaube, hoch wird man ihn nicht ansetzen dürfen.«
»Sie haben sich schon für eine Alternative entschieden«, stellte sie mit einem Blick auf mich fest.
War etwas wie Vorwurf in ihrem Ton? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Verstehen Sie mich recht«, sagte ich. »Mir mißfällt das alles nicht weniger als Ihnen. Ich habe nichts weiter getan, als die Möglichkeiten nüchtern dargestellt. Helfen wir den Überlebenden der Katastrophe, wieder eine Art Leben aufzubauen? Oder machen wir eine moralische Geste, die nach der Lage der Dinge kaum mehr sein kann als eine Geste? Die Leute da drüben haben offenbar ihre Entscheidung schon getroffen.«
Sie scharrte mit den Fingern am Boden und ließ Erde aus der Hand rieseln.
»Ich glaube ja, daß Sie recht haben«, sagte sie.
»Aber Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, daß es mir mißfällt.«
»Gefallen oder Mißfallen haben aufgehört, entscheidende Faktoren zu sein«, bemerkte ich.
»Vielleicht. Aber ich habe nun einmal Bedenken gegen alles, was mit Schüssen beginnt.«
»Es waren Schreckschüsse – und sie haben wahrscheinlich Blutvergießen verhütet«, entgegnete ich.
Die Menge hatte sich inzwischen völlig verlaufen.
Ich kletterte über die Mauer und half Josella beim Heruntersteigen auf der anderen Seite. Ein Mann beim Tor öffnete und ließ uns ein.
»Wie viele seid ihr?« fragte er.
»Nur wir zwei. Wir sahen euer Signal gestern nacht«, erklärte ich.
»Okay. Kommt mit zum Oberst.« Er führte uns über den Vorhof.
Der Oberst hatte sein Quartier in einem kleinen Raum unweit des Eingangs, offenbar in der Portierloge, aufgeschlagen. Er mochte an die Fünfzig sein, ein rundlicher Herr mit dichtem, kurzgeschnittenem grauem Haar. Der Schnurrbart streng militärisch, jedes einzelne Haar gleichsam in Reih und Glied. Er saß an einem Tisch, auf dem Schreibpapier in mathematisch genau gekanteten Stapeln bereitlag, vor sich ein großes, sauberes Löschblatt.
Als wir eintraten, musterte er uns, einen nach dem anderen, mit einem scharfen prüfenden Blick, den er etwas länger als nötig verweilen ließ. Ich kannte die Technik. Sie soll andeuten, daß man einen guten Menschenkenner vor sich hat, dem man nichts vormachen kann, der einen durchschaut, aber auch volles Vertrauen verdient. Am besten erwidert man diesen Blick mit einem von gleicher Qualität, der beweist, daß man ein ›tüchtiger Bursche‹ ist. Das tat ich.
Der Oberst nahm die Feder in die Hand.
»Die Namen, bitte?«
Wir nannten sie.
»Und die Adressen?«
»Ich sehe zwar nicht ein, was sie unter den gegenwärtigen Umständen nützen können«, wandte ich ein, »aber wenn Sie sie brauchen –« Wir gaben sie ihm.
Er schrieb sie auf, etwas von System, Organisation und Verwandten murmelnd. Alter, Beschäftigung und alles übrige folgten. Er sah uns nochmals prüfend an, versah jedes Blatt mit einer Notiz und reihte es in eine Kartei ein.
»Tüchtige Leute nötig. Scheußliche Sache das. Gibt aber viel zu tun hier. Viel. Mr. Beadley wird Ihnen sagen, was.«
Wir kehrten in die Einfahrt zurück.
Michael Beadley erwies sich als ein entschieden andersartiger Typ. Er war hager, groß, breitschulterig, hatte eine leicht gebeugte Haltung und etwas von einem verabschiedeten Athleten. Die großen dunklen Augen verliehen seinem Gesicht in Momenten der Ruhe einen etwas düsteren Ausdruck, aber Ruhe war bei ihm selten. Das angegraute Haar ließ keinen Schluß auf sein Alter zu. Er konnte alles zwischen Fünfunddreißig und Fünfzig sein. Im Augenblick erschwerte auch seine sichtbare Übermüdung eine Schätzung. Er mußte die ganze Nacht auf gewesen sein; dennoch begrüßte er uns heiter. Mit einer Handbewegung wies er uns zu einer jungen Frau, die unsere Namen nochmals aufschrieb.
»Sandra Telmont«, stellte er sie vor. »Sandra ist unsere Listenführerin. Ein Geschäft, das sie versteht; wir dürfen es daher als eine besondere Gunst der Vorsehung betrachten, daß wir sie haben. Mit Jacques habt ihr schon gesprochen?«
»Falls das der Oberst ist, der Civil Service spielt, ja«, antwortete ich.
Er grinste.
»Müssen im Bild sein. Können keinen Schritt tun, ohne den Verpflegungsstand zu kennen«, ahmte er den Oberst nach. Dann fügte er hinzu: »Es ist aber auch ganz richtig. Damit Sie wissen, wie es hier steht.
Zur Zeit sind wir fünfunddreißig Personen. Aus allen Schichten. Wir erhoffen und erwarten noch Zuzug während des heutigen Tages. Achtundzwanzig von den Anwesenden können sehen. Die anderen, meist Ehepartner, auch zwei, drei Kinder, sind blind. Geplant ist, daß wir morgen wegfahren, falls wir bis dahin fertig sind – sicherheitshalber, Sie verstehen mich.«
Ich nickte. »Wir wollten heute abend aus dem gleichen Grund weg.«
»Haben Sie Fahrzeuge?«
Ich berichtete, wo wir den Lieferwagen zurückgelassen hatten.
»Wir beabsichtigen, uns heute zu verproviantieren«, erklärte ich. »Bis jetzt haben wir praktisch nichts weiter im Wagen als Material zur Triffidabwehr.«
Er zog die Brauen hoch. Auch das Mädchen Sandra blickte mich erstaunt an.
»Damit haben Sie sich zuerst versorgt? Seltsam«, bemerkte er. Ich legte ihnen meine Gründe dar. Der Bericht schien nicht viel Eindruck auf sie zu machen, vielleicht war meine Darstellung nicht überzeugend.
Er ging mit einem Kopfnicken darüber hinweg und fuhr fort:
»Gut. Wenn ihr mit uns kommen wollt, schlage ich folgendes vor. Bringt euren Wagen her, ladet hier aus, fahrt dann nochmals los und vertauscht ihn für einen guten geräumigen Lkw. Und dann – versteht eins von euch etwas von Medizin?« fragte er unvermittelt.
Wir verneinten.
Er runzelte die Stirn. »Schade. Wir haben bis jetzt keinen Mediziner unter uns. Sollte mich wundern, wenn wir nicht bald einen brauchten. Und geimpft müssen wir jedenfalls alle werden. Aber euch zum Organisieren von Arzneimitteln auszuschicken, hätte nicht viel Sinn. Was wär's mit Lebensmitteln und allgemeinen Gebrauchsartikeln? Einverstanden?«
Er durchblätterte ein Büschel zusammengehefteter Zettel, nahm einen heraus und reichte ihn mir. Er trug die Nummer 15 und enthielt ein mit Schreibmaschine getipptes Verzeichnis von Lebensmittelkonserven, Kochgeschirr und Bettzeug.
»Nehmt nur die beste Qualität«, erklärte er. »Bei den Nahrungsmitteln geht Nährwert vor Masse: ich meine, waren Haferflocken bisher die Passion eures Lebens, so müßt ihr sie aufgeben. Ich rate euch, nur Speicher und Großhandlungen aufzusuchen.« Er notierte zwei, drei Adressen auf unsere Liste. »Ihr seid auf Dosen und Kisten aus; laßt euch nicht etwa durch Mehlsäcke ablenken. Das ist Aufgabe einer anderen Gruppe.« Er blickte Josella nachdenklich an. »Viel Anstrengung, fürchte ich, aber es ist die nützlichste Arbeit, die wir euch zur Zeit geben können Seht zu, daß ihr vor dem Dunkelwerden fertig seid. Heute abend wird hier um halb zehn eine allgemeine Diskussion abgehalten.«
Als wir uns zum Gehen wandten:
»Habt ihr Pistolen?« fragte er.
»Daran habe ich nicht gedacht«, gestand ich.
»Besser – im Fall des Falles. Schreckschüsse, einfach in die Luft abgefeuert, tun ihre Wirkung«, sagte er. Er nahm zwei Pistolen aus einer Tischlade und schob sie zu uns herüber. »Einfacher zu handhaben als das«, fügte er mit einem Blick auf Josellas Hirschfänger hinzu. »Glück auf und reiche Beute.«
Auch als wir nach Entladung des Lieferwagens ausfuhren, fanden wir noch immer weniger Leute auf den Straßen als am Vortag. Sie zeigten auch, sobald sie den Motor hörten, eher Neigung, auf die Gehsteige zu flüchten, als uns zu belästigen.