»Wenn wir noch essen wollen, bevor wir uns anhören, was andere Leute zu all dem zu sagen haben, ist es Zeit, daß wir hineingehen«, mahnte ich.
Konferenz
Wir alle, glaube ich, hatten nichts weiter als eine kurze Lagebesprechung erwartet. Informationen über Fahrzeiten, Strecke, Tagesziel. Ich jedenfalls hatte keine Ahnung, welche Probleme hier angeschnitten werden sollten.
Ort der Versammlung war ein kleiner Hörsaal, zu diesem Zweck durch ein Arrangement von Autoscheinwerfern und Batterien beleuchtet. Als wir eintraten, konferierte hinter dem Vortragspult eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Männern und zwei Frauen, anscheinend das Komitee. Zu unserem Erstaunen fanden wir im Zuhörerraum an die hundert Personen sitzen. Zumeist junge Frauen, ungefähr im Verhältnis vier zu eins. Josella machte mich aufmerksam – mir war es zunächst nicht aufgefallen –, wie wenige davon sehen konnten.
Michael Beadley beherrschte die konferierende Gruppe durch seine Länge. Neben ihm erkannte ich den Oberst. Die anderen waren mir unbekannt, bis auf Elspeth Cary, die nun, offenbar zur Information der Nachwelt, ihre Kamera mit einem Protokollbuch vertauscht hatte. Mittelpunkt der Gruppe aber war ein alter Herr von häßlichem, doch leutseligem Aussehen, mit goldgefaßter Brille und schlohweißem Haar, um den alle etwas besorgt zu sein schienen.
Das zweite weibliche Wesen in der Gruppe war ein junges Ding von vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig Jahren. Sie schien sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl zu fühlen und blickte hie und da nervös und unsicher auf die Zuhörerschaft.
Sandra Telmont trat ein mit einem Bogen Papier in der Hand. Sie warf einen Blick auf das Blatt und wies schnell die einzelnen Personen der Gruppe zu ihren Sitzplätzen. Dann gab sie Michael ein Zeichen, und er trat an das Vortragspult.
Etwas vorgebeugt, seine düsteren Augen auf die Zuhörer gerichtet, wartete er auf das Ende des Gemurmels. Er sprach mit einer angenehmen, geschulten Stimme und im Plauderton. »Viele unter uns«, begann er, »werden noch immer gelähmt sein von der Katastrophe, die uns betroffen hat. Die Welt, die wir gekannt haben, ist mit einem Schlag versunken. Einigen von uns mag das als das Ende aller Dinge vorkommen. Das ist eine Täuschung. Doch will ich gleich jetzt sagen: es kann das Ende sein, wenn wir es zulassen.
So ungeheuerlich das Urteil ist, so besteht doch noch immer eine begründete Aussicht auf ein Weiterleben. Es ist vielleicht nicht unangebracht, hier daran zu erinnern, daß wir keineswegs die einzigen sind, die ein Unglück so umfassender Art erlebt haben. Die Sagen von der Sintflut sind nicht nur Sagen; weit zurück in der Menschheitsgeschichte hat es wirklich eine große Überflutung gegeben. Die Überlebenden von damals müssen einem Unheil gegenübergestanden sein, das an Größe dem unseren nichts nachgab, ja vielleicht in mancher Hinsicht noch schrecklicher war. Dennoch verzweifelten sie nicht: sie begannen wieder von vorn, so wie wir wieder beginnen können.
Mit Selbstbemitleidung und tragischen Mienen ist nichts getan. Verzichten wir ein für allemal auf sie.
Wir müssen Bauende werden.
Und dann möchte ich, um keine romantische Untergangsstimmung aufkommen zu lassen, auch noch darauf hinweisen, daß das, was geschehen ist, keineswegs das Schlimmste von dem ist, was hätte geschehen können. Ich und wahrscheinlich viele von euch haben Schlimmeres erwartet. Und ich bin noch immer der Meinung, wäre diese Katastrophe nicht eingetreten, dann wäre dieses Schlimmere über uns hereingebrochen.
Seit dem 6. August 1945 haben sich die Lebensaussichten auf unserem Planeten erschreckend verringert. Ja, man kann sagen, sie waren vor zwei Tagen geringer als in diesem Augenblick. Wer dramatische Situationen sucht, der kann in den Jahren nach 1945 reiches Material finden, als der Weg, auf dem wir gehen mußten, zum Seil über einem Abgrund einschrumpfte und man nur mit geschlossenen Augen weiterwandern konnte.
In jedem einzelnen Augenblick der Jahre seither konnte der verhängnisvolle Fehltritt erfolgen. Es ist ein Wunder, daß es nicht geschah. Es ist ein doppeltes Wunder, daß dieses Wunder Jahre hindurch geschah.
Aber früher oder später mußte es zu dem Fehltritt kommen. Gleichviel, ob durch Absicht, Leichtsinn oder bloßen Zufalclass="underline" das Gleichgewicht war verloren und die Vernichtung entfesselt.
Wie schlimm es geworden wäre, können wir nicht sagen. Wie schlimm es hätte werden können – nun, vielleicht hätte es keinen einzigen Überlebenden gegeben, vielleicht keinen Planeten ... Und jetzt, zum Vergleich, unsere Lage: die Erde heil und unversehrt, fruchtbar wie immer. Nahrung und Rohstoffe vorhanden, die Archive des Wissens erhalten. Wir haben die Möglichkeit, alles zu lernen, was vor uns gelehrt und gelernt wurde, aber manches davon wollen wir lieber vergessen. Und wir haben die Mittel, die Gesundheit und die Kraft, noch einmal von vorne anzufangen.«
Die Rede war nicht lang, doch sie tat ihre Wirkung.
Sie mochte nicht wenigen der Versammelten das Gefühl geben, eher vor einer Art von Anfang zu stehen als vor dem Ende aller Dinge. Wenn er auch kaum mehr zu bieten hatte als Allgemeines, die Stimmung im Saal war zuversichtlicher, als er sich setzte.
Nach ihm sprach der Oberst, der sich dem Kon-kreten und Aktuellen zuwandte. Er erinnerte, daß, aus gesundheitlichen Gründen, das bebaute Gebiet möglichst bald verlassen werden sollte – der Abmarsch sei für morgen 12.00 Uhr angesetzt. Alles, was zur Aufrechterhaltung eines einigermaßen erträglichen Lebensstandards notwendig sei, sei herangeschafft worden. Unsere Vorräte sollten uns für mindestens ein Jahr von der Außenwelt unabhängig machen. Während dieses Zeitraums würden wir praktisch wie im Belagerungszustand leben. Zweifellos wäre es uns allen erwünscht, außer den in den Listen verzeichneten Gegenständen noch das eine oder andere mitzunehmen, doch müsse damit gewartet werden, bis der Sanitätsstab (hier errötete die zweite Dame des Komitees tief) die Isolierung für aufgehoben und die Ausfahrt von Organisierkommandos für zulässig erkläre. Was den Ort dieser Isolierung anlange, so sei das Komitee nach reiflicher Erwägung alles dessen, was von einer solchen Zufluchtsstätte verlangt werden müsse, zu dem Schluß gekommen, daß ein Provinzinternat oder ein größerer Gutshof sich am besten für unsere Zwecke eignen würde.
Ob sich das Komitee wirklich noch nicht für einen bestimmten Ort entschieden hatte oder ob der Oberst aus alter militärischer Gewohnheit am Grundsatz der Geheimhaltung festhielt, kann ich nicht sagen; ich bin aber überzeugt, daß es der schwerste an diesem Abend begangene Fehler war, uns weder den in Aussicht genommenen Ort oder wenigstens die Gegend bekanntzugeben. Ansonsten wirkte die praktische Art des Obersten durchaus günstig und beruhigend.
Als er sich setzte, ergriff Michael nochmals das Wort. Er sprach der verlegenen jungen Dame Mut zu und stellte sie vor. Es sei, sagte er, eine unserer größten Sorgen gewesen, daß wir niemand unter uns hatten, der über medizinische Kenntnisse verfügte, er begrüße daher Miß Berr mit besonderer Erleichterung. Sie besitze zwar keinen akademischen Grad, dafür aber eine gründliche Ausbildung als Pflegerin.
Er selber halte von einem erst jüngst erlangten Wissen mehr, als von einem vor Jahren erworbenen Diplom.
Neuerdings errötend, sagte das Fräulein mit wenigen Worten, sie wolle ihr Bestes tun, woran sie ziemlich abrupt die Mitteilung schloß, daß sie uns alle gegen eine ganze Reihe von Dingen impfen würde, bevor wir den Saal verließen.
Dann kam ein kleiner Mann, der etwas Spatzenartiges hatte, und schärfte uns ein, daß die Gesundheit jedes einzelnen von uns das Interesse aller berühre, jede Erkrankung sei sofort zu melden, da der Ausbruch einer ansteckenden Krankheit unter uns die ernstesten Folgen haben würde.