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Als er zu Ende war, erhob sich Sandra, um dem letzten Redner der Gruppe das Wort zu erteilen: Dr. E. H. Vorless, D. Sc., aus Edingburgh, Professor der Soziologie an der Universität Kingston.

Der alte Herr mit dem schlohweißen Haar trat an das Pult. Einige Augenblicke stand er schweigend, den Kopf gesenkt, die Fingerspitzen auf dem Pult, als prüfe er es. Die hinter ihm sitzenden Mitglieder des Komitees beobachteten ihn aufmerksam und nicht ohne Unruhe. Der Oberst lehnte sich seitwärts, um Michael etwas zuzuflüstern. Der nickte, ohne seinen Blick von dem Professor abzuwenden. Der alte Herr blickte auf. Er strich sich über das Haar.

»Meine Freunde«, sagte er, »ich darf wohl annehmen, daß ich hier der älteste bin. Im Laufe von fast siebzig Jahren habe ich vieles gelernt, auch vieles wieder verlernen müssen – und doch nicht genug, wie mich dünkt. Und wenn mich bei meinem Studium menschlicher Einrichtungen und Organisationsformen etwas noch stärker gefesselt hat als ihre Zähigkeit, so ist es ihre Vielfalt.

Mit Recht sagt man: andere Zeiten, andere Sitten.

Bei einigem Nachdenken müssen wir alle erkennen, daß das, was in der einen Gemeinschaft als Tugend gilt, in einer anderen Verbrechen sein kann: daß das, was hier abgelehnt und verworfen wird, anderswo als lobenswert und rühmlich gelten kann; daß man in dem einen Jahrhundert Dinge verurteilt, die man in einem anderen verzeihlich findet. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß in jeder Gemeinschaft und in jeder Periode ein weitverbreiteter Glaube an die moralische Richtigkeit der eigenen Satzungen besteht.

Da indessen viele dieser Satzungen einander widersprechen, ist es klar, daß sie nicht alle in einem absoluten Sinn ›richtig‹ sein können. Das objektivste Urteil, das hier möglich ist – wenn überhaupt geurteilt werden soll –, wäre, zu sagen, daß sie zu einer bestimmten Zeit ›richtig‹ waren für die Gemeinschaften, die sich zu ihnen bekannten. Vielleicht haben sie diese Gültigkeit auch noch heute, aber oft findet man, daß sie sie eingebüßt haben und daß die Gemeinschaften, die ihnen auch weiterhin blindlings folgen, ohne Rücksicht auf die veränderten Umstände, sich damit Schaden zufügen, ja vielleicht den Untergang bereiten.«

Die Zuhörer, die nicht wußten, worauf diese Ein-leitung abzielte, wurden unruhig. »Niemand«, fuhr er fort, »wird sich wundern, wenn er in einem vergessenen indischen Dorf, wo Not und Hunger herrschen, andere Lebensformen, Sitten und Gebräuche findet als etwa im Villenviertel einer modernen Großstadt.

Ebenso wird sich die Bevölkerung eines heißen Landes, wo das Leben mühelos ist, von den Bewohnern dichtbesiedelter Industriegebiete hinsichtlich ihrer obersten Tugenden und Leitsätze unterscheiden. Mit anderen Worten: veränderte Umwelt, veränderter Standard.

Ich erwähne das, weil die Welt, die wir gekannt haben, nicht mehr besteht – sie ist verschwunden.

Und mit ihr die Bedingungen und Voraussetzungen, auf die sich unsere Standards gründen. Da unsere Bedürfnisse andere geworden sind, müssen sich auch unsere Ziele ändern. Ein Beispiel. Wir alle haben heute mit vollkommen ruhigem Gewissen Dinge getan, die man vorgestern noch als Einbruch und Diebstahl bezeichnet hätte. Die alte Ordnung ist zerstört; unsere Aufgabe ist es nun, die für die neue Lage zweckmäßigste Lebensform zu finden. Nicht nur aufbauen müssen wir, sondern auch umdenken – was schwieriger ist und weitaus unangenehmer.

Der Mensch ist noch immer ungemein anpassungsfähig. Aber jede Gemeinschaft hat die Tendenz, die heranwachsende Generation nach bestimmten Formen zu modeln und sie mit dem Bindemittel ihrer Vorurteile zu festigen. Das Ergebnis ist ein Gebilde, das äußerst zäh ist und sich auch gegen den Andrang tiefwurzelnder Neigungen und Triebe zu behaupten vermag. So entsteht der Held, der, allem Selbsterhaltungstrieb entgegen, sein Leben freiwillig einem Ideal opfert – so entsteht aber auch der selbstsichere Dummkopf, der immer ›recht‹ hat.

In Zukunft werden viele der uns anerzogenen Vorurteile fallen, oder doch von Grund aus geändert werden müssen. Ein fundamentales Vorurteil allerdings können und müssen wir aufrechterhalten: die menschliche Gemeinschaft muß weiterleben. Diesem obersten Leitsatz hat sich, zumindest für einige Zeit, alles andere unterzuordnen. Wir müssen uns bei allem, was wir unternehmen, fragen: ›Ist es lebensfördernd oder lebenshemmend?‹ Ist es fördernd, müssen wir es tun, gleichviel, ob es mit unseren gewohnten Vorstellungen übereinstimmt oder nicht. Ist es hemmend, müssen wir es vermeiden, auch wenn diese Unterlassung allen unseren alten Begriffen von Pflicht, ja selbst von Recht widerspricht.

Es wird nicht leicht sein: alte Vorurteile haben ein zähes Leben. Der Einfältige verläßt sich auf die bequeme Schutzwehr von Regeln und Vorschriften, ebenso der Unselbständige und der Geistesträge – ja, wir alle vertrauen dieser Schutzwehr weit mehr, als wir wissen und ahnen. Nun, da die Organisation aufgelöst ist, geben uns ihre Tabellen keine richtigen Auskünfte. Wir müssen den moralischen Mut aufbringen, selbständig zu denken und zu planen.«

Er blickte nachdenklich auf seine Zuhörerschaft.

Nach einer Pause sagte er:

Eines muß Ihnen ganz klar sein, bevor Sie sich zum Beitritt zu unserer Gemeinschaft entschließen. Jeder von uns wird seinen Beitrag zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe zu leisten haben. Die Männer müssen arbeiten – die Frauen müssen Babys haben.

Wer sich damit nicht einverstanden erklären kann, für den ist in unserer Gemeinschaft kein Platz. Nach einer Pause, in der Totenstille herrschte, fügte er hinzu:

»Wir können eine beschränkte Anzahl Frauen, die das Augenlicht verloren haben, miterhalten, denn sie werden Babys haben, die sehen können. Wir können es uns nicht leisten, Männer zu erhalten, die nicht sehen können. In unserer neuen Welt also werden Babys viel wichtiger sein als Ehemänner.«

Nachdem er aufgehört hatte zu reden, blieb es einige Augenblicke still, dann erhob sich vereinzeltes Gemurmel, aus dem bald ein allgemeines Summen wurde.

Ich sah Josella an. Zu meinem Erstaunen schmunzelte sie spitzbübisch.

»Was kommt Ihnen hier komisch vor?« fragte ich etwas kurz.

»Die Gesichter der Leute vor allem«, erwiderte sie.

Das war ein Grund, den ich gelten lassen mußte.

Ich schaute im Saal umher und dann zu Michael, der seine Blicke durch die Reihen der Zuhörerschaft wandern ließ, um ihre Reaktion festzustellen.

»Michael sieht etwas besorgt aus«, bemerkte ich.

»Hat er nicht notwendig«, meinte Josella. »Was Brigham Young Mitte des vorigen Jahrhunderts zuwege brachte, ist heute ein Kinderspiel.«

»Manchmal muß ich mich über Sie wundern, Josella«, sagte ich. »Haben Sie hier Informationen erhalten?«

»Eigentlich nicht, aber wissen Sie, ganz dumm bin ich nicht. Und dann hat man, während Sie weg waren, die meisten dieser blinden Mädchen in einem Autobus hergebracht. Alle aus einem Blindenheim.

Ich habe mich gefragt: weshalb sie extra von dort, holen, wo man in den nächsten Straßen Tausende auflesen kann? Die Antwort darauf war, daß sie, erstens, da sie schon seit langem blind waren, eine Art Schulung erhalten haben, und, zweitens, daß es ausnahmslos Mädchen waren. Nicht schwer, einen Schluß zu ziehen.«

»Hm«, sagte ich. »Kommt, vermute ich, auf die Einstellung an. Ich muß gestehen, daß mir das alles nicht aufgefallen wäre. Glauben Sie –?«

»St! St!« unterbrach sie mich, als Stille im Saal entstand.

Die Frau, die sich erhoben hatte, war groß, dunkel, noch jung und sah energisch und zielbewußt aus. Sie wartete, den Mund zusammengekniffen, als sei er gar nicht zu öffnen, aber sie öffnete ihn.

»Haben wir den letzten Redner so zu verstehen«, fragte sie mit messerscharfer Stimme, »daß er für freie Liebe plädiert?« Und sie setzte sich mit einer Entschiedenheit, die Befürchtungen für ihr Rückgrat erregte.