Professor Vorless sah sie an und glättete sein Haar.
»Ich nehme an, die Fragestellerin erinnert sich, daß von Liebe nicht die Rede war, weder von freier, noch käuflicher oder verkäuflicher. Darf ich um eine präzisere Fragestellung bitten?«
Die Frau stand nochmals auf.
»Ich nehme an, der Redner hat mich verstanden.
Ich frage, ob er vorschlägt, die Ehegesetze abzuschaffen?«
»Die Gesetze, die wir bisher gekannt haben, sind durch die Umstände abgeschafft worden. Unsere Aufgabe ist es nun, Gesetze aufzustellen, die der neuen Lage entsprechen, und ihnen, nötigenfalls mit Gewalt, Geltung zu verschaffen.«
»Die Gesetze Gottes und des Anstands gelten aber noch immer.«
»Gnädige Frau. Salomon hatte dreihundert – oder waren es fünfhundert? – Frauen, und anscheinend hat Gott ihm das nicht übelgenommen. Der sittenstrengste Mohammedaner kann vier Frauen haben.
Das sind Fragen des lokalen Herkommens. Welche Gesetze in diesen und anderen Dingen gelten sollen, darüber werden wir, zum Wohl der Gemeinschaft, später alle entscheiden.
Das Komitee hat nach eingehender Beratung beschlossen, daß zur Sicherung eines ungestörten Aufbaus und um die sehr nahe liegende Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei auszuschalten, alle Beitretenden sich mit gewissen Verpflichtungen einverstanden erklären müssen.
Keiner von uns wird wiederfinden, was wir verloren haben.
Was wir bieten, ist ein arbeitsreiches Leben unter den uns erreichbaren günstigsten Bedingungen und das Glücksgefühl, das eine unter widrigen Umständen vollbrachte Leistung verleiht. Dafür verlangen wir Willigkeit und Fruchtbarkeit. Niemand wird gezwungen. Jeder kann wählen. Allen, denen unser Angebot nicht zusagt, steht es vollkommen frei, anderswohin zu gehen und eine Gemeinschaft nach ihrem Gutdünken zu gründen.
Aber ich bitte jeden, sich sehr sorgfältig zu überlegen, ob er von Gott das Recht hat oder nicht, einer Frau das Glück zu nehmen, das sie in der Erfüllung ihrer natürlichen Bestimmung finden kann.«
Die sich anschließende weitläufige Diskussion glitt häufig zu Mutmaßungen und Detailfragen ab, auf die es jetzt noch keine Antworten geben konnte. Aber niemand stellte einen Antrag auf Abkürzung. Je länger man über die Sache sprach, um so mehr würde sie ihren befremdlichen Charakter verlieren.
Josella und ich begaben uns zu dem Tisch, wo Nurse Berr ihres Amtes waltete. Nachdem wir mehrere Injektionen in den Arm erhalten hatten, kehrten wir auf unsere Plätze zurück, um dem Wortgefecht weiter zuzuhören.
»Wie viele, glauben Sie, werden mitmachen?« fragte ich Josella.
Sie tat einen Rundblick.
»Fast alle – bis es Tag ist«, erklärte sie.
Ich bezweifelte das. Immer neue Einwände und Bedenken wurden laut. Josella sagte:
»Sie müssen sich an die Stelle einer Frau versetzen, die sich heute vor dem Einschlafen eine Stunde oder zwei überlegt, wofür sie sich entscheiden soll. Für Babys und eine Organisation, die sich um einen kümmert, oder für ein Prinzip, bei dem es wahrscheinlich keine Babys gibt und niemanden, der sich um einen kümmert. Sie wird nicht lange im Zweifel sein.«
Nach etwa einstündiger Dauer wurde die Debatte beendet. Michael gab bekannt, daß die Namen aller, die mittun wollten, bis zehn Uhr morgens in seinem Büro sein mußten. Der Oberst forderte diejenigen, die einen Lkw fahren konnten, auf, sich bis 7.00 Uhr bei ihm zu melden; damit schloß die Versammlung.
Josella und ich schlenderten ins Freie. Es war ein milder Abend. Das Licht auf dem Turm strahlte wieder hoffnungsvoll zum Himmel. Der Mond stand eben über dem Dach des Museums. Wir setzten uns auf eine niedere Mauer, sahen in die Schatten des Gartens vor uns und horchten auf das leise Rauschen in den Baumwipfeln. Wir rauchten jeder eine Zigarette und schwiegen. Als ich mit der meinen zu Ende war, warf ich sie fort und holte tief Atem.
»Josella«, sagte ich.
»Mm?« antwortete sie, kaum aus ihrer Versunken-heit erwachend.
»Josella«, wiederholte ich. »Diese – Babys. Ich würde ganz schrecklich stolz und glücklich sein, wenn sie mir so gut wie Ihnen gehören könnten.«
Einen Augenblick saß sie ganz still und sagte nichts. Dann wandte sie den Kopf. Das blonde Haar schimmerte im Mondlicht, aber ihr Gesicht und ihre Augen blieben im Schatten. Ich wartete, einen hämmernden Schmerz in meinem Innern. Mit überraschender Ruhe sagte sie:
»Danke, Bill. Ich glaube, ich würde es auch sein.«
Hand in Hand blieben wir auf dem Mauerstück sitzen und schauten auf die Schattengestalten der Bäume – ohne sie richtig zu sehen, zumindest muß ich das von mir sagen. Dann schaltete jemand in dem Gebäude hinter uns ein Grammophon ein und spielte einen Straußwalzer. Heimweh weckend klangen die Töne durch den leeren Hof und verwandelten die Straße vor uns für einen Augenblick in einen gespenstischen Ballsaal; ein buntes Gewimmel, mit dem Mond als Kronleuchter.
Josella glitt von ihrem Sitz. Die Arme ausgebreitet, Gelenke und Finger im Takt bewegend, schwebte sie leicht wie Distelflaum in einem großen, vom Mondlicht erhellten Kreis. Sie tanzte zu mir heran, winkend und mit leuchtenden Augen.
Und so tanzten wir. Tanzten am Rand einer unbekannten Zukunft zum Echo einer versunkenen Vergangenheit.
Vereitelte Pläne
Ich durchschritt eine unbekannte verödete Stadt bei dumpfem Glockengeläut, während die hohle Grabstimme ins Leere rief: »Das Tier ist los! Seid auf der Hut! Das Tier ist los!« als ich erwachte und wirklich eine Glocke läuten hörte. Es war eine Handglocke, die so erschreckend gellte und klirrte, daß ich mich zuerst gar nicht entsinnen konnte, wo ich war. Noch ganz schlaftrunken setzte ich mich auf, da erscholl der Ruf ›Feuer‹, und ich sprang, so wie ich war, von meiner Schlafstätte und lief in den Flur. Dort spürte ich Brandgeruch und hörte hastige Schritte und das Zuschlagen von Türen. Der Hauptlärm schien von rechts zu kommen, wo das Glockengeläut und das Geschrei andauerten. Ich lief in diese Richtung. Das am Ende des Flurs durch hohe Fenster sickernde Mondlicht verbreitete so viel Dämmerung, daß ich mich in der Mitte des Korridors halten konnte und nicht den Leuten in den Weg lief, die an den Wänden entlangtappten. Ich erreichte den Stiegenabgang. In der Halle unten gellte die Glocke noch immer. Ich eilte hinunter, so schnell ich konnte, in immer dickeren Qualm geratend. Beinahe am Ende der Treppe stolperte ich und stürzte nach vorn. Die Dämmerung wurde plötzlich schwärzeste Finsternis, aus der Licht aufstach wie eine Wolke von Nadeln, und das war alles ...
Das erste war ein hämmernder Schmerz im Kopf, das zweite etwas Blendendes, als ich die Augen öffnete. Was aber beim ersten Blick grell wie ein Scheinwerfer zu leuchten schien, erwies sich, als ich die Augenlider vorsichtig hob, als ein ganz gewöhnliches, noch dazu ziemlich schmutziges Fenster. Ich sah, daß ich in einem Bett lag, weitere Erkundungen ließ das schmerzhafte Kolbengestampf in meinem Kopf nicht zu. Ich blieb reglos liegen und starrte zur Zimmerdecke empor – bis ich plötzlich entdeckte, daß meine Handgelenke zusammengeschnürt waren.
Das schreckte mich, trotz des Hämmerns in meinem Kopf, aus meiner Lethargie. Die Fesselung war zwar nicht schmerzhaft eng, aber vollkommen zwekkentsprechend. Einige Wicklungen von Isolierdraht um jedes Handgelenk und ein komplizierter Knoten an einer Stelle, wo man mit den Zähnen nicht hin konnte. Ich fluchte ein wenig und schaute umher. Ein kleines Zimmer, ganz leer, bis auf das Bett, wo ich lag.
»Heda!« rief ich. »Ist da niemand?«
Nach einer halben Minute etwa schlurften draußen Schritte. Die Tür ging auf, und in der Öffnung erschien ein Kopf. Ein eher kleiner Kopf mit einer Tweedkappe, einer strickartigen Krawatte um den Hals, das Gesicht übersät mit dunklen Bartstoppeln.