»Oder?« entgegnete ich, ihn anblickend.
»Oder Ihre Gruppe wird hungrig. Wäre schlimm für Sie. Sind Jungens darunter, die keinen Spaß verstehen. Seien Sie also vorsichtig. Morgen früh werden Sie und Ihre Schar in Lkw hingefahren. Sehen Sie zu, daß Sie die Leute durchbringen, bis Hilfe kommt.«
»Und wenn keine kommt?« fragte ich.
»Es muß Hilfe kommen«, sagte er verbissen. »Auf jeden Falclass="underline" Sie wissen, was Sie zu tun haben – und bleiben Sie in Ihrem Revier.«
Als er sich zum Gehen wandte, fragte ich:
»Ist eine Miß Playton hier?«
»Eure Namen kenne ich nicht«, erwiderte er.
»Blond, etwa eins siebzig groß, graublaue Augen«, beharrte ich.
»Eine Blonde von der Größe ist da, glaube ich. Die Augen habe ich mir nicht angeschaut. Habe Wichtigeres zu tun.« Und damit ging er.
Ich studierte die Karte. Sehr begeistert war ich von dem mir zugewiesenen Distrikt nicht. Vorstadt, gute Luft; aber für unsere Zwecke wäre ein Bezirk mit Magazinen und Lagerhäusern besser gewesen. Es war fraglich, ob da überhaupt größere Lebensmitteldepots zu finden waren. Nun, »es kann nicht jeder einen Haupttreffer machen«, wie Alf es zweifellos ausgedrückt hätte – und ich hatte ja auch nicht die Absicht, länger zu bleiben, als unbedingt nötig war.
Als Alf wieder erschien, fragte ich ihn, ob er Josella eine Nachricht überbringen könne. Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Chef. Ist nicht erlaubt.«
Obwohl ich ihm versprach, daß der Zettel harmlos sein würde, blieb er fest. Was ich ihm im Grunde nicht verargen konnte. Er hatte keine Ursache, mir zu vertrauen, und lesen konnte er den Zettel nicht, um festzustellen, ob er wirklich so harmlos war, wie ich behauptete. Nichts zu wollen, zumal ich ja auch weder Papier noch Bleistift hatte. Nach einigem Drängen versprach er, Josella von meiner Anwesenheit zu benachrichtigen und sich zu erkundigen, in welchen Distrikt sie gesendet wurde. Er gab dieses Versprechen ungern, sah aber ein, falls eine Rettungsaktion startete, würde es für mich leichter sein, Josella zu finden, wenn ich wußte, wo mit der Suche begonnen werden konnte.
Nachher blieb ich eine Weile mit meinen Gedanken allein.
Das Übel war: ich hatte mich noch immer nicht klar und endgültig für einen bestimmten Weg entschieden. Mich überzeugten die Argumente beider Seiten.
Auf lange Sicht sprach der gesunde Menschenverstand für Michael Beadley und seine Schar. Und zweifellos hätten Josella und ich, wenn alles gut gegangen wäre, uns ihr angeschlossen. Aber ich wußte auch: ganz wohl hätte ich mich nicht gefühlt. Nie wäre ich ganz überzeugt gewesen, daß nichts für das sinkende Schiff hatte geschehen können; nie ganz sicher, daß es nicht rein egoistische Erwägungen waren, von denen ich mich hatte leiten lassen. Bestand keine Aussicht auf eine organisierte Rettungsaktion, dann war der Plan, zu bergen, was geborgen werden konnte, das Vernünftige. Nur ist leider das Vernünftige nicht die einzige Triebkraft im Bereich des Menschlichen. Ich sah mich jener Grundvorausset-zung gegenüber, von der der alte weißhaarige Professor gesagt hatte, es sei so schwer gegen sie anzu-kämpfen. Er hatte nur allzu recht: die Anwendung neuer Prinzipien war schwierig. Angenommen, ein Wunder brachte Rettung, dann wußte ich genau, als welche Laus ich mir vorkommen würde, daß ich, gleichviel aus welchen Gründen, desertiert war; wie ich mich und die anderen verachten würde, daß wir nicht in London ausgeharrt und geholfen hatten, solange zu helfen war.
Kam aber, andererseits, keine Hilfe, mit welchen Gefühlen würde ich dann auf die vergeudete Zeit, die verschwendete Mühe blicken, wenn stärkere Charaktere aus dem Zusammenbruch zu retten suchten, was gerettet werden konnte?
Ich wußte, ich hätte sofort und ein für allemal eine Entscheidung treffen und dann dabei bleiben sollen.
Aber ich vermochte es nicht. Ich war unschlüssig.
Und ich war immer noch unschlüssig, als ich einige Stunden später einschlief.
Es gab kein Mittel, zu erfahren, wozu Josella sich entschlossen hatte. Ich hatte keinerlei persönliche Nachricht von ihr erhalten. Nur einmal während des Abends hatte Alf den Kopf hereingesteckt. Seine Mitteilung war kurz.
»Westminster«, meldete er. »Menschenskind!
Schätze, die werden im Parlamentsgebäude kaum viel Futter finden.«
Am nächsten Morgen wurde ich zeitig von Alf geweckt. Er kam in Begleitung eines großen kräftigen Mannes mit unsteten Augen, der ostentativ an einem Schlächtermesser fingerte. Alf trat zu mir und ließ einen Armvoll Kleider auf mein Bett fallen. Sein Ge-fährte schloß die Tür, lehnte sich an sie und beobachtete mich, mit dem Messer spielend.
»Reichen Sie einmal die Hände her, Kamerad«, sagte Alf.
Ich hielt sie ihm hin. Er tastete nach dem Draht um die Gelenke und zwickte ihn mit einer Beißzange durch.
»Und jetzt ziehen Sie die Sachen da an, Kollege«, erklärte er, zurücktretend.
Ich kleidete mich an, während der Mann mit dem Messer jeder meiner Bewegungen mit Falkenblicken folgte. Als ich fertig war, brachte Alf ein Paar Handschellen zum Vorschein. »Und jetzt noch die«, bemerkte er.
Ich zögerte. Der Mann bei der Tür lehnte nicht mehr an ihr und sein Messer hatte sich etwas gehoben. Für den Kerl war das offensichtlich der interessanteste Moment. Ich entschied, daß die Zeit, etwas zu unternehmen, noch nicht gekommen war, und hielt meine Hände hin. Alf betastete sie und ließ die Handschellen zuschnappen. Dann ging er und brachte mir das Frühstück.
Zwei Stunden später kam der Kerl mit dem Messer wieder. Er zeigte damit nach der Tür.
»Los«, sagte er. Es war das einzige Wort, das ich von ihm hörte.
Das Messer hinter meinem Rücken verursachte ein unbehagliches Gefühl, während wir mehrere Treppen hinunterstiegen und dann eine Halle durchquerten.
Auf der Straße warteten zwei beladene Lastkraftwagen. An der Hinterwand des einen stand Coker mit zwei Begleitern. Er winkte mich heran. Ohne ein Wort zu sagen, zog er eine Kette zwischen meinen Armen durch. An beiden Enden waren Riemen, einer war bereits um das linke Handgelenk eines stämmi-gen Blinden an seiner Seite gewunden; den anderen machte er am rechten Gelenk eines kaum weniger athletisch gebauten Burschen fest, so daß ich zwischen beiden stand. Man wollte anscheinend auf Nummer Sicher gehen.
»An Ihrer Stelle würde ich jede Dummheit sein lassen«, empfahl mir Coker. »Gehen Sie anständig vor, wird man auch Ihnen gegenüber anständig sein.«
Unbeholfen kletterten wir drei hinten auf das Fahrzeug, und die beiden Lkw fuhren los.
Wir hielten in der Nähe von Swiss Cottage und stiegen aus. Etwa zwanzig Leute befanden sich in Sichtweite, anscheinend ziellos wanderten sie die Rinnsteine entlang. Beim Geräusch der Motoren hatten sich alle uns zugewandt mit einem ungläubigen Ausdruck in den Gesichtern und gleichsam von einem einzigen Mechanismus getrieben, begannen sie hoffnungsvoll und mit lauten Rufen herbeizutappen.
Die Fahrer schrien uns zu, die Fahrbahn frei zu machen. Sie fuhren rückwärts, wendeten und rasselten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Die herantappenden Blinden stockten. Einige riefen den Wagen nach; die meisten nahmen schweigend und hoffnungslos ihre Wanderung wieder auf.
Ich wandte mich meiner Gruppe zu.
»Nun, was soll zuerst geschehen?« fragte ich.
»Wir brauchen ein Quartier«, sagte einer. »Einen Platz, wo wir schlafen können.«
Das zumindest mußte ich für sie auftreiben. Ich konnte sie hier nicht einfach im Stich lassen. Es galt, eine Art Hauptquartier, eine Zentrale einzurichten, wo sie alle unterkommen und verpflegt werden konnten. Ich zählte sie. Es waren zweiundfünfzig Personen; vierzehn davon Frauen. Ein Hotel würde wohl das beste sein. Es würde uns das Heranschaffen von Betten und Bettzeug ersparen.