Die Wahl fiel auf eine aus drei Häusern zusammengelegte Pension, die mehr Raum bot, als wir bedurften. Wir fanden ein halbes Dutzend Leute in dem Gebäude. Was mit den übrigen geschehen war, weiß der Himmel allein. Die Zurückgebliebenen saßen verängstigt in einem der Salons – ein alter Herr, eine ältere Dame – die Leiterin der Pension, wie sich herausstellte –, ein Mann in den mittleren Jahren und drei Mädchen. Die Leiterin hatte noch so viel Energie, um uns mit einigen scharfen Drohungen zu empfangen, aber hinter der Fassade spürte man die Panik.
Der alte Herr versuchte, ihr durch ein bißchen Aufbegehren zu Hilfe zu kommen. Die anderen wandten uns nur ihre nervös gespannten Gesichter zu und sagten gar nichts.
Ich erklärte, daß wir hier einziehen würden. Wenn ihnen das nicht passe, könnten sie gehen; falls sie es aber vorzogen, zu bleiben und mit uns zu teilen, was da war, stünde ihnen auch das frei. Sie schienen nicht erfreut. Ich vermutete nach ihrem Verhalten, daß sie irgendwo in dem Gebäude Vorräte versteckt hatten, die sie mit niemandem teilen wollten. Als sie erkannten, daß unsere Absicht war, noch weitere Vorräte zu sammeln, änderte sich ihre Haltung merklich, und sie schienen sich in das Unvermeidliche zu fügen.
Ich beschloß, ein, zwei Tage zu bleiben, bis sich die Leute etwas eingerichtet hatten. Ich nahm an, Josella würde für ihre Schar das gleiche tun. Ein findiger Kopf, dieser Coker; hatte uns schön drangekriegt, wie man sagt. Aber nachher wollte ich davon und Josella aufsuchen.
Die folgenden zwei Tage arbeiteten wir systematisch und durchkämmten die größeren Läden der näheren Umgebung – meist Filialgeschäfte bescheidenen Umfangs. Fast überall waren uns andere zuvorgekommen. Die Portale waren arg mitgenommen.
Die Schaufenster eingeschlagen, drinnen lagen halb geöffnete Dosen und angebrochene Pakete, die die Finder enttäuscht hatten, in einer klebrigen stinken-den Masse, mit Glasscherben vermischt, auf den Fußböden. Aber gewöhnlich war der angerichtete Schaden gering, die Zerstörung oberflächlich. Die größeren Kisten in und hinter dem Laden fanden wir unberührt.
Das Wegschaffen und Verladen der schweren Kisten auf Handkarren stellte an die Blinden große Anforderungen. Dann mußte die Beute in das Quartier gebracht und dort verstaut werden. Aber allmählich bekamen sie Übung in diesen Arbeiten.
Der schlimmste Hemmschuh war, daß ich überall dabei sein mußte. Ohne meine Anleitung konnte wenig oder nichts getan werden. Unmöglich, mehr als ein Arbeitskommando gleichzeitig einzusetzen, obwohl wir ein Dutzend hätten aufstellen können.
Ebenso konnte im Hotel nicht viel geschehen, wenn ich mit einem Trupp unterwegs war. Und die Zeit, die ich auf die Erkundung und Durchsuchung des Distrikts aufwenden mußte, war für alle meine Leute so gut wie verloren. Zwei Sehfähige hätten hier weit mehr als die doppelte Leistung erzielt.
Nach dem Start fand ich tagsüber kaum Zeit, an anderes zu denken als an die im Gang befindliche Arbeit, und abends schlief ich vor Ermüdung ein, sobald ich mich niederlegte. Immer wieder schärfte ich mir ein: »Morgen abend habe ich sie so weit – sie können sich über Wasser halten, zumindest eine Zeitlang. Dann mache ich mich aus dem Staub und suche Josella.«
Leicht gesagt, immer verschob ich meine Flucht auf den nächsten Tag, und mit jedem Tag wurde sie schwieriger. Wohl hatten einige der Leute angefangen, ein bißchen zu lernen; aber praktisch konnte oh-ne mein Beisein nichts getan werden, vom Dosenöffnen bis zum Organisieren. Ja, es sah fast so aus, als würde ich immer unentbehrlicher.
Und es war nicht ihre Schuld. Das machte es ja so schwierig. Einige taten wirklich ihr Bestes. Ich brauchte ihnen nur zuzusehen und es war unmöglich für mich, einfach davonzugehen und sie im Stich zu lassen. Ein dutzendmal am Tag verwünschte ich den Mann Coker, der mich in diese Situation gebracht hatte, aber sie wurde dadurch nicht besser: ich fragte mich nur, wie das enden sollte ...
Eine erste Andeutung davon, die ich jedoch kaum richtig erkannte, erhielt ich am vierten oder fünften Morgen. Wir waren aufbruchbereit, als eine Frau die Stiege herunterrief, daß oben zwei krank lägen, in bedenklichem Zustand, wie sie glaube.
Meine beiden Wachthunde wollten nicht hinauf.
»Hört«, sagte ich ihnen. »Ich habe diese Kettensträflingsrolle langsam satt. Und überhaupt könnten wir ohne sie entschieden mehr leisten.«
»Und Sie könnten leicht zu Ihren Freunden zurück«, bemerkte irgendwer.
»Ich will Ihnen reinen Wein einschenken«, entgegnete ich. »Ich hätte diesen beiden Gorilla-Imitationen zu jeder Tages- oder Nachtstunde eins über den Schädel geben können. Ich habe es nicht getan, weil ich nichts weiter gegen sie habe, als daß ich sie für zwei lästige Schwachköpfe halte ...«
»Aber –«, versuchte eins meiner Anhängsel einzuwenden.
»Aber«, fuhr ich fort, »wenn sie mich nicht zu den Kranken lassen, können sie jeden Augenblick einen Hieb über den Schädel erwarten.«
Die zwei gaben nach, aber im Zimmer oben hielten sie Distanz, soweit es die Kette zuließ. Die Erkrankten waren ein junger Mann und einer mittleren Alters.
Beide hatten hohes Fieber und klagten über heftige Bauchschmerzen. Ich verstand damals nicht viel von solchen Dingen und brauchte auch nicht viel zu verstehen, um unruhig zu werden. Ich konnte nichts weiter tun, als die beiden in das nächste leerstehende Haus transportieren lassen und eine von den Frauen beauftragen, sich, so gut sie konnte, um sie zu kümmern.
So begann ein Tag der Rückschläge. Der nächste, von ganz anderer Art, ereignete sich gegen Mittag.
Da die meisten umliegenden Lebensmittelgeschäfte nun geräumt waren, hatte ich beschlossen, unser Arbeitsgebiet etwas zu erweitern. Ich erinnerte mich, daß es eine halbe Meile weiter nördlich eine andere Geschäftsstraße geben mußte, und führte meine Leute dorthin. Wir fanden die Straße, aber auch etwas anderes.
Als wir um die Ecke bogen und die Straße vor uns hatten, stockte ich. Vor einem der Filialläden sah ich Männer damit beschäftigt, Kisten herauszuschaffen und auf einen Lkw zu verladen. Wäre das Fahrzeug nicht gewesen, so hätte ich glauben können, meine Leute am Werk zu sehen. Ich ließ meinen Trupp – etwa zwanzig Mann – halten und überlegte. Ich war dafür, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen; es gab anderwärts noch Vorräte genug. Aber nicht ich sollte die Entscheidung treffen. Ich stand noch unschlüssig, als ein rothaariger junger Mann aus dem Ladeneingang herausgeschlendert kam. Kein Zweifel darüber, daß er sehen konnte – und, einen Augenblick später, daß er uns gesehen hatte.
Er teilte meine Unschlüssigkeit nicht. Er tat einen schnellen Griff in seine Tasche. Im nächsten Moment klatschte eine Kugel in die Mauer neben mir.
Sowohl seine wie meine Leute wandten ihre blicklosen Augen einander zu, bemüht, zu erkennen, was los war. Er feuerte nochmals. Vermutlich hatte er auf mich gezielt, aber die Kugel traf den Mann links von mir. Der gab einen erstaunten Grunzlaut von sich und sackte mit einem Seufzer zusammen. Ich warf mich, den anderen Wachthund mitreißend, hinter die schützende Ecke zurück.
»Schnell«, sagte ich. »Her mit dem Schlüssel für die Fesseln. Ich kann so nichts tun.«
Der Mann grinste schlau. Er hatte ein eingleisiges Hirn.
»Ho«, sagte er. »Geben Sie's auf. Mich können Sie nicht drankriegen.«
»Ach, um Gottes willen, Sie verfluchter Clown –«, knirschte ich, den Körper von Wachthund Nummer eins an der Kette näher zerrend, damit wir besser in Deckung gehen konnten. Der Kerl begann zu argumentieren. Weiß der Himmel, welche Kniffe er mir in seiner Verblendung zutraute. Die schlaffe Kette bot nun genug Spielraum: ich hob die Arme und schmetterte ihm beide Fäuste an den Schädel, daß er krachend gegen die Mauer prallte. Damit war das Argumentieren aus. Ich fischte den Schlüssel aus seiner Seitentasche.