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Ich verwünschte mich, weil ich unterlassen hatte, die Toten auf der Straße genauer anzusehen. Eine einzige Strieme wäre Warnung genug gewesen.

»Halt«, schrie ich. »Bleibt stehen, wo ihr seid.«

Ich sprang von der Kiste, drängte die Männer von der umgeschlagenen Klappe der Falltür herunter und schloß die gefährliche Öffnung.

»Hinten ist eine Tür«, erklärte ich. »Laßt euch Zeit.«

Die ersten zwei ließen sich Zeit. Dann aber schwirrte der Stachel einer Triffid durch das eingeschlagene Fenster in den Laden. Ein Mann schrie auf und stürzte. In panischer Angst stürmten die anderen zur Tür und schoben mich vor sich her. Beim Ausgang verkeilte sich alles. Noch zweimal zischten die Geißeln hinter uns her, bevor wir durch waren.

Drinnen sah ich mich keuchend um. Wir waren unser sieben. »Halt«, wiederholte ich. »Hier sind wir in Sicherheit.«

Ich kehrte zur Türe zurück. Der hintere Teil des Ladens lag außerhalb der Reichweite der Triffids – solange sie draußen blieben. Ich erreichte ungefähr-det die Falltür und klappte sie hoch. Die zwei, die zuletzt hinuntergestürzt waren, kamen herauf. Der eine mit einem gebrochenen Arm, der andere nur zerschunden und fluchend.

Von der Hinterkammer aus gelangte man in einen kleinen Hof und dann zu einer Tür in einer acht Fuß hohen Mauer. Ich war vorsichtig geworden. Statt geradewegs zu der Tür zu gehen, kletterte ich auf das Dach eines Nebengebäudes, um Ausschau zu halten.

Die Tür ging, wie ich sehen konnte, in ein schmales Gäßchen hinaus, das den ganzen Block entlanglief. Es war leer. Aber jenseits der Mauer, die auf der anderen Seite die Gärten einer Reihe von Privathäusern zu begrenzen schien, erspähte ich die Spitzen zweier Triffids, die regungslos zwischen den Sträuchern standen. Da die Mauer an dieser Stelle niedriger war, konnten sie mit ihren Geißeln quer über das Gäßchen schlagen. Ich erklärte den Männern die Lage.

»Verdammte Biester«, sagte einer von ihnen. »Ich hab die Dinger nie leiden können.«

Ich durchforschte die weitere Umgebung. Im zweitnächsten Gebäude an der Nordseite befand sich eine Autoverleihfirma, die drei Wagen auf dem Grundstück stehen hatte. Es kostete viel Mühe, die Blinden über die zwei Mauern zu bringen, die wir überklettern mußten, besonders den Mann mit dem gebrochenen Arm, aber wir schafften es. Irgendwie brachte ich auch alle in einem großen Daimler unter.

Nachdem sie verstaut waren, öffnete ich die Aus-fahrtstore und lief zum Wagen zurück.

Die Triffids waren nicht langsam. Ihre unheimliche Empfindlichkeit für Geräusche verriet ihnen, daß etwas geschah. Als wir hinausfuhren, schwankten schon zwei auf die Einfahrt zu. Ihre Geißeln peitschten uns entgegen, klatschten aber wirkungslos auf die geschlossenen Fenster. Ich ging scharf in die Kurve, rammte eine und brachte sie zum Sturz. Dann fuhren wir die Straße hinauf, einer weniger gefährlichen Gegend zu.

Der Abend, der folgte, war der schlimmste für mich seit dem Ausbruch des Unheils. Da ich die Wachthunde los war, quartierte ich mich in einem kleinen Zimmer ein, wo ich allein sein konnte. Ich stellte sechs brennende Kerzen in eine Reihe auf das Kaminsims und saß lange brütend und grübelnd in einem Lehnsessel und ließ mir die Dinge durch den Kopf gehen. Bei der Rückkehr hatten wir einen der am vorigen Abend erkrankten Männer tot gefunden; und allem Anschein nach lag der andere im Sterben – und vier neue Fälle waren dazugekommen. Nach dem Abendessen waren es wieder um zwei mehr. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Bei dem Mangel an Pflege und angesichts der allgemeinen Lage, kam eine ganze Reihe von Seuchen in Frage. Ich dachte an Typhus, mutmaßte aber, daß die Inkubationszeit diese Diagnose ausschloß – nicht, daß etwas zu tun war, auch wenn ich es gewußt hätte. Ich wußte nur, es war etwas so Bösartiges, daß es den rothaarigen jungen Mann veranlaßt hatte, nach seiner Pistole zu greifen und die Verfolgung meiner Gruppe aufzugeben.

Es sah ganz so aus, als hätte ich meinen Leuten von Anfang an einen zweifelhaften Dienst geleistet. Ich hatte sie am Leben erhalten, hatte sie zwischen der Bedrohung durch einen rivalisierenden Trupp auf der einen Seite und der durch die aus der Hampstead Heath herandringenden Triffids auf der anderen durchgeschleust. Nun kam diese Krankheit dazu.

Und, alles in allem, hatte ich nichts weiter erreicht, als einen Aufschub des Hungertodes für kurze Zeit. Aus dieser Situation sah ich keinen Ausweg. Und dann beunruhigte mich der Gedanke an Josella. Das gleiche wie hier geschah wohl auch in ihrem Distrikt, vielleicht Schlimmeres ...

Ich mußte an Michael Beadley und seine Gruppe denken. Ich hatte schon immer gewußt, daß die Logik für sie sprach, und nun gewann es den Anschein, daß ihr Vorgehen auch das humanere war. Sie hatten erkannt, der Versuch, mehr zu retten, als einige wenige, mußte scheitern. Den übrigen eine leere Hoffnung geben, war eigentlich Grausamkeit.

Und wir selber? Wozu waren wir verschont worden? Doch nicht nur, um uns um etwas Vergebliches und Unmögliches zu bemühen?

Ich beschloß, morgen auf die Suche nach Josella zu gehen; wir würden uns dann die Sache gemeinsam überlegen ...

Die Türklinke wurde niedergedrückt und die Tür ging langsam auf.

»Wer ist da?« sagte ich.

»Oh, Sie sind es«, antwortete eine Mädchenstimme.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte ich.

Sie war groß und schlank. Noch keine zwanzig, meiner Schätzung nach. Leicht gewelltes Haar. Ka-stanienbraun. Von ruhigem Wesen, fiel sie doch auf – es lag an ihrer Erscheinung, an ihrer Haltung. Sie hatte sich nach meiner Bewegung und der Stimme orientiert. Ihre goldbraunen Augen blickten gerade über meine linke Schulter hinweg, sonst hätte ich gesagt, sie betrachtete mich.

Sie antwortete nicht sogleich. Diese Unentschlossenheit stimmte nicht zu dem Eindruck, den sie sonst machte. Ich wartete auf ihre Antwort. Etwas begann mir die Kehle zuzuschnüren. Sie war jung. Und schön. Vor ihr hätte das Leben liegen sollen, vielleicht ein wunderbares Leben ...

»Sie werden von hier fortgehen?« sagte sie. Es klang halb wie eine Frage, halb wie eine Feststellung, die Stimme war ruhig, ein wenig gebrochen.

»Das habe ich nie gesagt«, entgegnete ich.

»Nein«, gab sie zu, »die anderen sagen es. Und haben recht, nicht wahr?«

Darauf gab ich keine Antwort. Sie fuhr fort:

»Sie können nicht fort. Können uns nicht so verlassen. Wir brauchen Sie.«

»Ich tue hier nichts Gutes«, sagte ich. »Es ist hoffnungslos.«

»Vielleicht kommt doch noch Rettung.«

»Jetzt nicht mehr. Wir wüßten es nun schon.«

»Und wenn sie dennoch käme – und Sie wären einfach auf und davon –?«

»Glauben Sie, ich hätte mir das alles nicht überlegt?

Ich sage Ihnen, ich tue hier nichts Gutes. Ich bin nur so etwas wie eine Injektion, die den Kranken aufpulvert, ein Stimulans, ein Aufschub, kein Heilmittel.«

Sie schwieg sekundenlang. Dann sagte sie mit schwankender Stimme:

»Das Leben ist sehr kostbar – auch jetzt noch.« Ihre Kraft war fast zu Ende.

Darauf konnte ich nichts erwidern. Sie gewann ihre Fassung wieder.

»Sie können uns am Leben erhalten. Eine Chance bleibt uns. Es kann eine Wendung kommen. Auch jetzt noch.«

Die Antwort darauf hatte ich schon gegeben. Ich wiederholte sie nicht.

»Es ist so schwer«, sagte sie wie zu sich selber.

»Könnte ich Sie sehen ... Dann freilich wäre ja alles anders ... Sie sind jung? Ihre Stimme klingt jung.«

»Ich bin unter dreißig«, antwortete ich. »Und sehr gewöhnlich.«

»Ich bin achtzehn. Der Tag, an dem der Komet kam, war mein Geburtstag.«

Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, ohne daß es wie eine Grausamkeit geklungen hätte. Es entstand eine lange Pause. Ich sah, daß sie ihre Hände zusammenkrampfte. Als sie sie sinken ließ, waren die Knöchel ganz weiß. Sie schien sprechen zu wollen, blieb aber stumm.