»Was kann ich tun?« fragte ich. »Außer alles etwas hinauszögern.«
Sie zögerte, drehte sich um und tappte zur Tür zurück.
»Ich bleibe«, rief ich ihr nach, als sie hinausging.
»Sagen Sie es den anderen.«
Das erste, was mir am nächsten Morgen auffiel, war der Geruch. Er hatte sich auch früher von Zeit zu Zeit verspüren lassen, zum Glück war das Wetter kühl geblieben. Diesmal hatte ich weit in einen schon etwas wärmeren Tag hineingeschlafen. Ich will auf diesen Geruch nicht näher eingehen; die ihn gekannt haben, werden ihn nie vergessen, für die anderen läßt er sich nicht beschreiben. Wochen hindurch stieg er aus jeder Stadt und aus jedem Ort und war in jedem Lufthauch zu spüren. An jenem Morgen brachte er mir die Überzeugung, daß das Ende da war. Nicht der Tod, die Verwesung setzt den Schlußpunkt.
Ich blieb liegen und überlegte. Nun blieb nur noch das eine: meine Leute auf Lastwagen zu verladen und in einzelnen Gruppen aufs Land zu transportieren.
Und all die Vorräte, die wir aufgehäuft hatten? Auch sie mußten verladen und weggeschafft werden – und ich der einzige, der fahren konnte ... Es würde Tage dauern – falls wir noch Tage hatten ...
Dann horchte ich. Das ganze Gebäude war so seltsam still. Ich vernahm nur ein Ächzen in einem benachbarten Zimmer, sonst nichts. Ich stieg aus dem Bett und kleidete mich eilends an. Draußen auf dem Treppenabsatz horchte ich nochmals. Kein Schritt war im Haus zu hören. Plötzlich regte sich in mir ein widriges Gefühl, als wiederhole sich alles und ich sei wieder im Spital.
»Heda! Ist da niemand?« rief ich.
Einige Stimmen antworteten. Ich öffnete eine nahe Tür. Da drinnen war ein Mann. In bedenklichem Zustand. Er lag im Delirium. Hier konnte ich nichts tun.
Ich schloß die Tür wieder.
Meine Schritte klangen laut auf der Holztreppe. Im nächsten Stock rief eine Stimme: »Bill – Bill!« Die Stimme einer Frau. Sie lag in einem kleinen Zimmer im Bett; es war das Mädchen, das mich gestern abend aufgesucht hatte. Sie wandte den Kopf, als ich eintrat.
Ich sah, es hatte sie auch erwischt.
»Kommen Sie nicht zu nahe«, sagte sie. »Sie sind es doch, Bill?«
»Ich dachte es mir. Sie können noch gehen: die anderen müssen schleichen. Ich bin froh, Bill. Ich habe den anderen gesagt, Sie würden uns nicht im Stich lassen – aber die behaupteten, Sie seien weg. Nun sind alle gegangen, alle, die gehen konnten.«
»Ich habe geschlafen«, sagte ich. »Was ist denn passiert?«
»Immer mehr hat es erwischt. Sie hatten Angst.«
Ich sagte hilflos: »Kann ich etwas für Sie tun? Etwas bringen?«
Ihr Gesicht verzerrte sich, sie schlug die Arme um den Leib und krümmte sich. Der Anfall ging vorüber, Schweiß sickerte über ihre Stirne.
»Bitte, Bill. Ich bin nicht sehr tapfer. Könnten Sie etwas bringen – damit es schneller geht?«
»Ja«, sagte ich. »Das kann ich für Sie tun.«
In zehn Minuten war ich von der Apotheke zurück.
Ich reichte ihr ein Glas Wasser und drückte ihr das Mitgebrachte in die andere Hand. Sie hielt es eine Weile. Dann:
»So sinnlos – und alles hätte so ganz anders sein können«, murmelte sie. »Leben Sie wohl, Bill – und Dank für alles.«
Ich blickte auf die Sterbende. Sinnlos? Vielleicht.
Und ich fragte mich, wie viele an ihrer Stelle gesagt haben würden ›Nehmen Sie mich mit‹ und nicht
›Bleiben Sie bei uns‹.
Und ich habe niemals auch nur ihren Namen erfahren.
Evakuierung
Es war die Erinnerung an den rothaarigen jungen Mann, der auf uns geschossen hatte, die mich bewog, eine bestimmte Route nach Westminster zu wählen.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatte mein Interesse für Waffen abgenommen, aber wer in einer zur Barbarei zurückkehrenden Umwelt am Leben bleiben wollte, mußte bereit sein, als Barbar zu leben.
In St. James' Street gab es einige Läden, wo einem mit der größten Zuvorkommenheit jedes Mordwerkzeug verkauft wurde, von der Krähenflinte bis zur Elefantenbüchse.
Ich verließ diese Gegend mit erhöhtem Sicherheits-gefühl und der Ausrüstung eines Banditen. Wiederum verfügte ich über einen handlichen Hirschfänger.
Eine Pistole von der Präzisionsarbeit eines wissen-schaftlichen Instruments hatte ich in der Tasche. Auf dem Sitz neben mir lagen ein geladenes Gewehr und Schachteln mit Patronen. Ich hatte statt einer Büchse eine Schrotflinte gewählt – der Knall ist ebenso überzeugend und man köpft damit eine Triffid viel sicherer als mit einer Kugel. Und Triffids konnte man nun auch in London begegnen. Zwar schienen sie die Straßen noch nach Möglichkeit zu meiden, doch hatte ich einige durch den Hyde Park stelzen gesehen, und andere gab es im Green Park. Wahrscheinlich harmlose gestutzte Zierpflanzen – oder auch nicht.
Und so kam ich nach Westminster.
Die Öde und die Totenstille waren hier noch aus-geprägter als anderswo. Die Straßen boten das gewohnte Bild: überall Gruppen herrenloser, verlassener Fahrzeuge. Sehr wenig Leute in Sicht. Ich sah nur drei. Zwei klopften mit ihren Stöcken die Gossen von Whitehall entlang, den dritten gewahrte ich auf dem Parliament Square. Er sag nahe dem Lincoln-Denkmal und umklammerte seinen kostbarsten Besitz: eine Speckseite, von der er eben eine Schnitte mit einem stumpfen Messer heruntersägte.
Über all dem erhob sich das Parlamentsgebäude; die Zeiger der Turmuhr waren drei Minuten nach sechs stehengeblieben. Schwer zu glauben, daß dieser ganze riesige Komplex nun nichts mehr bedeutete, nichts weiter war als ein pompöses Gebilde aus brüchigem Stein, das ruhig zerfallen konnte. Mochten die bröckelnden Zinnen auf die Terrasse herunterprasseln – kein Abgeordneter würde sich über die Gefährdung seines wertvollen Lebens beschweren. Daneben floß ungestört die Themse. Wie sie fließen würde, bis eines Tages die Kaimauern umsanken und die Wasser sich ausbreiteten und Westminster wieder ein Eiland inmitten einer Marsch wurde.
Es beschlich mich ein neues Gefühl – Angst vor dem Alleinsein. Ich war nicht mehr allein gewesen, seit ich nach Verlassen des Spitals die Piccadilly entlangwanderte, und damals hatte mich all das bestürzend Neue gefesselt, das ich sah. Nun erlebte ich zum erstenmal den Schrecken, den wirkliche Einsamkeit für ein von Natur geselliges Geschöpf hat. Ich fühlte mich nackt und preisgegeben, von lauernden Ängsten umstellt ...
Ich zwang mich, die Victoria Street hinaufzufahren.
Selbst die Geräusche des Wagens und ihr Echo erschreckten mich. Ich hätte den Wagen am liebsten stehengelassen, um lautlos zu Fuß weiterzuschleichen. Nur mit dem Aufgebot meiner ganzen Willens-kraft vermochte ich, den Kopf obenzubehalten und meinen Plan durchzuführen. Denn ich wußte, was ich getan hätte, wäre mir dieser Distrikt zugefallen – ich hätte mich aus seinem größten Warenlager verproviantiert.
Die Lebensmittelabteilung der Army and Navy Stores fand ich auch richtig ausgeräumt, aber kein lebendes Wesen in den Räumen.
Ich ging durch eine Seitentür hinaus. Auf dem Gehsteig strich eine Katze schnuppernd um etwas, das wie ein Lumpenbündel aussah, aber keins war.
Ich klatschte in die Hände. Das Tier fauchte mich an und huschte davon.
Ein Mann bog um eine Ecke. Mit triumphierender Miene rollte er einen großen Käse mitten auf der Fahrbahn vor sich her. Als er einen Schritt hörte, bremste er den Käse, setzte sich darauf und schwang drohend seinen Stock. Ich kehrte in die Hauptstraße zu meinem Wagen zurück.
Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß auch Josella ihr Hauptquartier in einem Hotel aufgeschlagen hatte. Mir fiel ein, daß es um den Victoria Bahnhof ein paar gab, und ich fuhr hin. Es gab aber dort mehr, als ich vermutet hatte. Nachdem ich mehr als zwanzig durchsucht hatte, ohne eine Spur einer organisierten Niederlassung zu finden, erschien die Suche ziemlich aussichtslos.