Ich sah mich nach jemandem um, den ich fragen konnte. Endlich traf ich nahe der Buckingham Palace Road eine vor einer Haustür kauernde alte Frau.
Sie scharrte mit gebrochenen Fingernägeln an einer Dose und fluchte und wimmerte abwechselnd. Ich ging in einen kleinen Laden in der Nähe und fand ein halbes Dutzend übersehener Bohnenkonserven auf einem hohen Regal, stöberte auch einen Dosenöffner auf und kehrte zu der Alten zurück, die noch immer vergeblich an der Blechbüchse herumwerkte.
»Schmeißen Sie sie weg«, riet ich ihr, »es ist Kaffee.«
Ich drückte ihr den Öffner in die Hand und gab ihr eine Bohnenkonserve.
»Passen Sie auf«, sagte ich. »Wissen Sie hier herum ein Mädchen – ein Mädchen, das sehen kann? Wahrscheinlich ist sie bei einer Gruppe.«
Viel Hoffnung hatte ich nicht, aber die alte Frau mußte Hilfe erhalten haben, um so lange durchhalten zu können. Ich traute kaum meinen Augen, als sie nickte.
»Ja«, sagte sie und setzte den Öffner an.
»Sie wissen, wo sie ist?« forschte ich. Mir kam gar nicht in den Sinn, es könne jemand anderer sein als Josella.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich war kurze Zeit bei ihnen, aber ich hab sie verloren. Eine alte Frau wie ich kann mit den Jungen nicht Schritt halten, und so hab ich sie verloren. Sie haben nicht gewartet auf eine arme alte Frau und ich hab sie nicht wiederfinden können.«
Sie schnitt eifrig an der Dose weiter.
»Wo war euer Quartier?« fragte ich.
»Wir waren alle in einem Hotel. Wo es ist, weiß ich nicht, sonst hätte ich zurückgefunden.«
»Wissen Sie nicht, wie es geheißen hat?«
»Ich weiß es nicht. Wozu ist ein Name gut, wenn niemand da ist, der ihn lesen kann?«
»Aber an irgend etwas müssen Sie sich doch erinnern können.«
»Ich weiß gar nichts.«
Sie roch vorsichtig an der geöffneten Dose.
»Jetzt passen Sie einmal auf«, sagte ich kalt. »Sie wollen doch diese Dose behalten, nicht wahr?«
Sie machte mit einem Arm eine Bewegung, um sie an sich zu ziehen. »Dann müssen Sie mir auch alles, was Sie wissen, über das Hotel erzählen«, fuhr ich fort. »Sie müssen doch wissen, ob es groß oder klein war.«
Sie überlegte, einen Arm noch immer schützend über die Dosen gestreckt.
»Unten hat es hohl geklungen – als sei es groß und geräumig. Und fein muß es auch gewesen sein – ich meine, es hatte dicke Teppiche und gute Betten und feines Leinenzeug.«
»Und sonst?«
»Sonst nichts. Oder doch. Man mußte über zwei niedere Stufen hinein und durch eine Drehtür.«
»Das ist etwas«, sagte ich. »Sind Sie dessen auch ganz sicher? Kann ich es nicht finden, so kann ich Sie jederzeit finden, wie Sie wissen.«
»Die reine Wahrheit, Mister. Zwei niedere Stufen und eine Drehtür.«
Sie stöberte aus einer neben ihr liegenden zerknit-terten Tasche einen schmutzigen Löffel und kostete die Bohnen, als seien sie eine Götterspeise.
Es waren noch mehr Hotels in dieser Gegend, als ich vorausgesehen hatte, und eine ganz erstaunliche Zahl hatte Drehtüren. Aber ich blieb hartnäckig. Und fand es zuletzt. Die Spuren und der Geruch waren unverkennbar und schlossen jeden Irrtum aus.
»Ist hier jemand?« rief ich durch das widerhallende Vestibül. Ich wollte schon weiter hineingehen, als ich aus einem Winkel ein Stöhnen hörte. In einer halbdunklen Nische lag ein Mann auf einer Polsterbank.
Auch in der Dämmerung war zu sehen, daß es mit ihm zu Ende ging. Ich trat nicht zu nahe. Er schlug die Augen auf. Er sah aus, als ob er mich anblickte.
»Wer ist da?« murmelte er.
»Ich möchte nur fragen, ob –«
»Wasser«, ächzte er. »Einen Schluck Wasser, um Christi willen –«
Ich ging in den Speisesaal und dann in den Anrichteraum nebenan. Kein Wasser in der Leitung. Ich spritzte den Inhalt zweier Siphonflaschen in einen großen Krug, den ich samt einem Becher in die Reichweite des Kranken stellte.
»Danke, Kamerad«, sagte der. »Ich kann mir schon helfen. Kommen Sie nicht zu nahe.«
Er tauchte den Becher in den Krug und trank ihn leer.
»Herrgott«, sagte er. »War das eine Wohltat!« Er schlürfte noch einen Becher aus. »Was wollen Sie hier, Kamerad? Ist eine ungesunde Gegend, das.«
»Ich suche ein Mädchen – ein Mädchen, das sehen kann. Namens Josella. Ist sie nicht hier?«
» War hier. Mann, Sie kommen zu spät.«
Ein plötzlicher Verdacht durchfuhr mich wie ein Stich.
»Sie wollen doch nicht sagen –?«
»Beruhigen Sie sich, Mann. Sie hat nicht was ich habe. Nein. Ist nur fort – wie alle, die noch fort konnten.«
»Wohin wissen Sie nicht?«
»Weiß ich nicht, Kamerad.«
»Verstehe«, erwiderte ich entmutigt.
»Am besten, Mann, Sie hauen auch ab. Sonst erwischt es Sie, und Sie können nicht mehr weg wie ich.«
Er hatte recht. Ich stand und sah ihn an.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«
»Nein. Damit komme ich aus. Lange wird es mit mir ja nicht mehr dauern.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Leben Sie wohl, Kamerad, und vielen Dank.
Und wenn Sie sie finden, schauen Sie auf sie – sie ist ein gutes Mädchen.«
Während ich mich etwas später mit einer Schin-kenkonserve und einer Flasche Bier stärkte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, zu fragen, wann Josella weggegangen war, beruhigte mich aber damit, daß der Kranke in seinem Zustand wohl kaum eine klare Vorstellung der abgelaufenen Zeit haben konnte.
Nun vermochte ich nur noch daran zu denken, die Universität aufzusuchen. Ich nahm an, daß auch Josella den gleichen Gedanken haben würde – und vielleicht noch andere unserer versprengten Gruppe.
Freilich, viel Hoffnung hatte ich nicht; vernünftigerweise hätte sie die Stadt schon vor Tagen verlassen müssen.
Noch immer hingen vom Turm zwei Flaggen, schlaff in der warmen Abendluft. Von den ungefähr zwei Dutzend Lastwagen, die wir im Vorhof gesammelt hatten, standen noch vier da, anscheinend unberührt. Ich parkte meinen Wagen daneben und betrat das Gebäude. Meine Schritte hallten durch die Stille.
»Hallo! Heda!« rief ich. »Ist da niemand?«
Meine Stimme weckte die Echos in Fluren und Stiegenaufgängen, verebbte in ein Geflüster und dann in Schweigen. Ich ging in den anderen Flügel und rief nochmals. Wiederum verhallten die Echos langsam.
Ich wandte mich zum Gehen, da gewahrte ich an der Wand innerhalb des Außentores eine Kreideauf-schrift. Mit großen Lettern war dort eine Adresse aufgeschrieben:
TYNSHAM MANOR
TYNSHAM
NR DEVIZES, WILTS.
Immerhin etwas.
Ich überlegte. In einer Stunde dunkelte es. Nach Devizes war es, meiner Schätzung nach, an die hundert Meilen mindestens. Ich ging nochmals hinaus und sah mir die Lastwagen an. Einer darunter war der letzte, den ich herangefahren hatte – der mit meiner verschmähten Anti-Triffid-Ausrüstung. Die übrige Ladung bestand, wie ich mich erinnerte, aus Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen. Damit war man jedenfalls willkommener, als wenn man im Auto und mit leeren Händen kam. Aber eine Fahrt, ohne zwingenden Grund, über die nächtlichen Landstraßen, noch dazu mit einem schwerbeladenen Lkw, war nicht nach meinem Geschmack; im Fall einer Panne verlor ich mit der Suche nach einem neuen Fahrzeug und mit dem Umladen mehr Zeit, als wenn ich hier nächtigte. Ein früher Start am Morgen schien mir günstiger. Ich verlagerte die Schachteln mit den Patronen in den Führersitz des Lkw. Das Gewehr behielt ich bei mir.