Das Zimmer, aus dem mich der falsche Feueralarm gescheucht hatte, fand ich unverändert; meine Kleider auf einem Sessel, selbst Zigarettenetui und Feuerzeug dort, wo ich sie neben mein improvisiertes Bett gelegt hatte.
Zum Schlafen war es zu früh. Ich zündete eine Zigarette an, steckte das Etui in die Tasche und beschloß, noch ein wenig ins Freie zu gehen.
Bevor ich aber den Park auf dem Russel Square betrat, hielt ich sorgfältig Umschau. Freie Plätze erregten bereits meinen Argwohn. Und richtig erspähte ich in der Nordwestecke eine Triffid. Sie stand vollkommen reglos zwischen den Büschen, überragte sie aber beträchtlich. Ich schlich näher und köpfte sie mit einem einzigen Schuß, der über den stillen Platz dröhnte, als hätte ich eine Haubitze abgefeuert. Als ich sicher war, daß keine anderen hier lauerten, ging ich in den Park und setzte mich ins Gras, den Rücken an einem Baumstamm. Ich blieb etwa zwanzig Minuten. Die Sonne stand tief und eine Hälfte des Platzes lag schon im Schatten. Bald mußte ich hineingehen. Nur solange es hell war, durfte ich mich sicher fühlen; im Dunkel konnten sich die Dinger unbemerkt heranstehlen. Ich tat noch einen Rundblick um den Platz. Und als ich so stand, vernahm ich von der Straße her das Knirschen von Schritten.
Ich fuhr mit schußbereitem Gewehr herum. Ich erblickte im Dämmer eine sich bewegende Gestalt. Als sie die Straße verließ und den Park betrat, sah ich, daß es ein Mann war. Er hatte mich offenbar gesehen, ehe ich ihn hörte, denn er kam gerade auf mich zu.
»Nicht schießen«, sagte er und hielt mir seine leeren Hände entgegen.
Wir erkannten einander gleichzeitig.
»Oh, Sie sind es?« meinte er.
»Hallo, Coker. Was tun Sie hier? Wollen Sie mir wieder einen kleinen Trupp anvertrauen?« fragte ich.
»Nein. Sie können Ihr Schießeisen ruhig wegtun.
Macht zuviel Krach. Hat mich hierhergebracht.
Nein«, wiederholte er, »ich habe genug. Lieber zur Hölle als hierbleiben.«
»Ganz meine Meinung«, sagte ich, das Gewehr senkend.
»Wie war es bei Ihnen?« fragte er.
Ich erzählte es ihm. Er nickte.
»Bei mir war es genauso. Und bei den übrigen vermutlich nicht anders. Immerhin: es war ein Versuch ...«
»In der falschen Richtung«, wandte ich ein.
Er nickte wiederum.
»Ja«, gab er zu. »Ihre Gruppe packte die Sache beim richtigen Ende an – hat nur nicht so ausgesehen, zumindest nicht vor einer Woche.«
»Es ist sechs Tage her«, berichtigte ich.
»Eine Woche«, beharrte er.
»Ist ja gleichgültig im Grunde«, erwiderte ich.
»Was wär's«, fuhr ich fort, »mit einer Amnestie und einem neuen Start?« Er war einverstanden.
»Ich hatte unrecht«, wiederholte er. »Ich war überzeugt, daß ich der war, der die Sache ernst nahm –
habe sie aber doch nicht ernst genug genommen. Ich hab einfach nicht glauben können, daß alles so bleiben und keine Hilfe kommen würde. Aber wie schaut es jetzt aus! Und so muß es überall sein. In Europa, in Asien, in Amerika – stellen Sie sich das vor, Amerika, so heimgesucht! Aber es muß drüben genauso sein.
Sonst wären sie schon da, um uns zu helfen und hier Ordnung zu machen, das ist ganz klar. Nein, Ihre Gruppe hat die Sache von Anfang an richtig gesehen.«
Wir blieben eine Weile stumm, dann fragte ich:
»Diese Krankheit oder Seuche – was ist es, Ihrer Meinung nach?«
»Keine Ahnung. Zuerst habe ich an Typhus gedacht, aber Typhus soll eine längere Entwicklungszeit haben – ich weiß es also nicht. Ich weiß auch nicht, warum es mich nicht erwischt hat – hab weiter nichts getan, als mich von den Kranken ferngehalten, meine Konserven immer selbst aufgemacht und nur Flaschenbier getrunken. Hab zwar bisher Glück gehabt, möchte aber doch möglichst bald von hier weg. Und was haben Sie vor?«
Ich erzählte ihm von der Adresse an der Wand die er noch nicht gesehen hatte. Er war auf dem Weg zur Universität gewesen, als ihn mein Schuß ablenkte.
»Es –«, begann ich und stockte. Aus einer der westlichen Straßen kam das Startgeräusch eines Autos. Es schwoll rasch an und verklang in der Ferne.
»Jemand ist also doch noch da außer uns«, bemerkte Coker. » Und dem, der die Adresse hinterlassen hat. Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
Ich zuckte mit den Achseln. Es konnte jemand aus der von Coker attackierten Gruppe gewesen sein, ein Zurückgekehrter oder ein bei dem Überfall Entkommener. Wer weiß, wie lange die Adresse schon dort stand. Coker überlegte.
»Besser, wir sind zu zweit. Ich komme mit und schau, was sich tut. Okay?«
»Okay«, willigte ich ein. »Aber jetzt bin ich fürs Schlafengehen, damit wir morgen zeitig starten können.«
Er schlief noch, als ich aufwachte. Ich vertauschte die Kleider, die mir Coker zur Verfügung gestellt hatte, mit dem Schianzug und den schweren Schuhen, da ich mich darin bequemer fühlte. Als ich mit einer Garnitur verschiedener Päckchen und Dosen zurückkehrte, fand ich auch ihn wach und angekleidet. Beim Frühstück beschlossen wir, um in Tynsham bessere Aufnahme zu finden, zwei beladene Fahrzeuge mitzubringen, statt gemeinsam mit einem zu fahren.
»Und sehen Sie, daß das Wagenfenster schließt«, warnte ich ihn. »Um London herum gibt es eine ganze Menge Triffidkulturen, besonders im Westen.«
»Mhm. Ich habe ein paar von den häßlichen Biestern unterwegs gesehen«, meinte er leichthin.
»Ich habe sie nicht nur unterwegs gesehen – sondern auch am Werk«, erklärte ich.
In der ersten Garage, an der wir vorbeikamen, brachen wir eine Pumpe auf und tankten. Dann brachen wir nach Westen auf, mein Dreitonner in Führung.
Es war eine beschwerliche Fahrt. Immer wieder muß-
ten wir verlassenen Fahrzeugen ausweichen. Manchmal blockierten zwei, drei die ganze Straße, so daß wir gezwungen waren, eins davon langsam aus der Fahrbahn zu bugsieren. Wenige waren beschädigt.
Die Erblindung schien rasch über die Fahrer gekommen zu sein, doch nicht so plötzlich, daß sie sofort die Kontrolle verloren hatten. Sie waren zumeist noch an den Straßenrand gefahren, ehe sie hielten. Wäre die Katastrophe bei Tag erfolgt, wären die Hauptstraßen einfach unpassierbar gewesen, und wir hätten Tage gebraucht, um uns durch Seitengassen aus dem Zentrum herauszuarbeiten – immer wieder vor undurchdringlichen Fahrzeugdickichten zur Umkehr gezwungen und auf der Suche nach Umfahrungsmöglichkeiten. So aber kamen wir eigentlich schneller vorwärts, als es im einzelnen den Anschein hatte.
Und als ich nach einigen Meilen ein umgestürztes Auto am Straßenrand erblickte, erkannte ich, daß die Route, der wir nun folgten, vor uns schon andere eingeschlagen und zum Teil freigemacht hatten.
An der Peripherie von Staines durften wir uns sagen, daß London endlich hinter uns lag. Ich hielt und ging zurück zu Coker. Als auch er ausschaltete, entstand eine tiefe, unnatürliche Stille, nur unterbrochen vom Knacken des abkühlenden Metalls. Mir fiel plötzlich ein, daß ich seit unserem Start, abgesehen von ein paar Spatzen, kein lebendes Wesen erblickt hatte. Coker kletterte vom Fahrersitz. Mitten auf der Fahrbahn blieb er stehen, horchend und umherspähend.
»Kommen Sie, stöbern wir etwas Eßbares auf«, sagte er dann.
Auf einem Ladentisch sitzend verspeisten wir marmeladebestrichene Zwiebackstücke, und als wir uns gestärkt hatten, setzten wir unsere Fahrt fort.
Irgendwie erfüllte einen der Anblick des offenen Landes mit Hoffnung. Zwar würden die jungen, grünen Saaten keiner Ernte entgegenreifen, die Früchte ungepflückt bleiben, die Felder und Fluren nie wieder so blank und sauber aussehen wie am heutigen Tag, aber das alles lebte weiter. Es war nicht wie die Städte tot und ausgelöscht für immer. Hier konnte man noch wirken und schaffen, hier war noch Zukunft. Hier erschien mir das Dasein, das ich in der vergangenen Woche geführt hatte, wie das einer Ratte, die vom Abfall lebt und in Müllhaufen wühlt.