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Die Weite der Felder weckte meine schlummernden Lebensgeister.

Orte an unserer Route, Städte wie Reading oder Newbury brachten kurze Rückfälle in die Londoner Stimmung, aber das ging vorüber.

Dauerndes Versinken ins Tragische verwehrt uns eine phönixgleiche Auftriebskraft, die, zum Heil oder zum Unheil, mit unserem Lebenswillen verbunden ist – und uns dennoch in einen schwächenden Krieg nach dem andern hineingezogen hat. Eine in unserem Wesen verankerte Notwendigkeit läßt uns selbst vor einem Ozean von Leid nur eine Zeitlang trauern; das Außergewöhnliche wird zum Alltäglichen, nur so ertragen wir das Leben. Unter dem leuchtenden Blau, in dem ein paar weiße Wolken schwammen wie himmlische Eisberge, wurden die Städte zu einer weniger schwer lastenden Erinnerung, und der Hauch des Lebens wehte uns an wie ein reinigender Wind.

Das entschuldigt es wohl nicht, aber erklärt es, daß ich mich während des Fahrens von Zeit zu Zeit beim Singen ertappte.

In Hungerford hielten wir, um uns wieder mit Nahrung und Brennstoff zu versorgen. Das Gefühl der Befreiung wuchs, während wir meilenweit unberührtes Land durchfuhren. Noch erschien es nicht verlassen und öde, sondern nur schlafend und friedlich. Selbst der Anblick kleiner Triffidgruppen, die hier und dort über ein Feld stelzten, oder anderer, die ihre Wurzeln noch im Boden hatten, rief bei mir keinerlei feindselige Stimmung wach. Sie waren für mich nun wiederum nichts weiter als Gegenstände meines früheren beruflichen Interesses.

Kurz vor Devizes machten wir nochmals halt, um unsere Karte zu Rate zu ziehen. Ein Stück weiter bogen wir rechts in eine Nebenstraße ab und fuhren in das Dorf Tynsham.

Tynsham

Tynsham Manor war kaum zu verfehlen. Gleich nach den paar Bauernhäusern, die das Dorf Tynsham bildeten, lief die hohe Mauer eines Gutshofes die Straße entlang. Wir folgten ihr, bis wir vor ein massives schmiedeeisernes Tor kamen. Hinter dem Tor stand eine junge Frau, aus deren Zügen der nüchterne Ernst eines übertriebenen Pflichtbewußtseins jeden menschlichen Ausdruck getilgt hatte. Sie war mit einer Schrotflinte bewaffnet, mit der sie nicht umzugehen verstand. Ich winkte Coker, zu halten, und rief sie an. Ich sah zwar, daß ihr Mund sich bewegte, hörte aber bei dem Dröhnen des Motors kein Wort.

Ich schaltete ab.

»Ist das Tynsham Manor?« fragte ich.

Das war anscheinend ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben wollte.

»Woher kommt ihr? Und wie viele seid ihr?« lautete ihre Gegenfrage.

Mit Unbehagen beobachtete ich, wie sie ihre Flinte handhabte. Den Blick auf ihre unvorsichtigen Finger gerichtet, erklärte ich ihr in wenigen Worten, wer wir waren, warum wir kamen, was wir ungefähr geladen hatten, und versicherte ihr, daß niemand auf dem Lkw versteckt lag. Ich war im Zweifel, ob sie mir richtig zuhörte. Sie starrte mich mit einem melancholisch prüfenden Blick an, wie er bei Spürhunden an-zutreffen ist, aber auch bei diesen nicht beruhigend wirkt. Meine Worte vermochten den unstillbaren Argwohn nicht zu zerstreuen, der den Umgang mit den Übergewissenhaften so schwierig macht. Sie spähte in den Laderaum der Lastwagen, um sich von der Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Einzugestehen, sie sei beruhigt, hätte ihrer Auffassung des Wächteramtes widersprochen, doch willigte sie zuletzt ein, uns einzulassen, wennschon mit Vorbehalt.

»Die Abzweigung rechts«, rief sie mir zu, als ich vorbeifuhr, und nahm sogleich wieder ihren Posten am Tor ein. Jenseits einer kurzen Ulmenallee erstreckte sich ein Landschaftsgarten im Stil des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts mit einzelnen freistehenden Bäumen, die sich ungehindert in ihrer ganzen Pracht hatten entwickeln können. Das Haus selbst, als es in Sicht kam, erwies sich als ein architektonisch uneinheitlicher, ziemlich weitläufiger Bau.

Es war ein Konglomerat der verschiedensten Stile, als hätte keiner der Besitzer der Versuchung widerstehen können, etwas seiner persönlichen Note Entsprechendes hinzuzufügen, das Ahnenerbe respektierend, aber dem Geist des eigenen Zeitalters gemäß. Das Ergebnis sah zwar zusammengewürfelt und recht ei-genwillig aus, dabei jedoch vertraut und anheimelnd.

Die Abzweigung rechts führte uns in einen weiten von Remisen und Ställen umgebenen Hof, in dem schon einige Fahrzeuge standen. Coker brachte seinen Wagen neben dem meinen zum Stehen und kletterte von seinem Sitz. Niemand war in Sicht.

Wir betraten das Hauptgebäude durch eine offenstehende Hintertür und durchschritten einen langen Flur. An seinem Ende war eine Küche von gewaltigem Ausmaß, in der noch immer Wärme und Kochdunst zu spüren war. Hinter einer Tür am anderen Ende ließen sich Stimmengemurmel und Tellerklirren vernehmen, aber wir mußten durch eine zweite dunkle Passage und eine andere Türe, bevor wir sie erreichten. Der Raum, in den wir eintraten, war vermutlich einmal die Gesindestube gewesen, als das Dienstpersonal noch so zahlreich war, daß man von Gesinde reden konnte. Hier hätten sich bequem hundert und mehr Personen an Tischen bewirten lassen.

Augenblicklich mochten zwischen fünfzig und sechzig anwesend sein, sie saßen auf Bänken an zwei langen improvisierten Tafeln, und man sah auf den ersten Blick, daß sie blind waren. Während sie geduldig saßen und warteten, waren einige Sehende sehr beschäftigt. Drei Mädchen tranchierten an einem Tisch an der Seite eifrig Hühner. Ich wandte mich an eine der Tranchiererinnen.

»Wir sind eben angekommen«, sagte ich. »Was sollen wir tun?« Die Angeredete hielt inne und strich, ohne ihre Gabel loszulassen, mit dem Handballen eine Haarlocke zurück.

»Sie können uns beim Gemüseausteilen helfen und Ihr Begleiter mit den Tellern«, antwortete sie.

Ich übernahm das Kommando bei zwei großen Kesseln mit Kartoffeln und Kohl. In den Pausen des Ausgebens hielt ich Umschau unter den Anwesenden. Josella war nicht unter ihnen – auch gewahrte ich keine der führenden Personen, die mir im Universitätsgebäude aufgefallen waren – doch unter den Frauen gab es einige, die mir bekannt vorkamen.

Der Prozentsatz der Männer war weit höher als in der früheren Gruppe und von sonderbarer Zusammensetzung. Einige mochten Londoner oder zumindest Städter sein, doch die meisten waren, ihrer Kleidung nach, Landarbeiter. Eine Ausnahme nach beiden Seiten bildete ein Geistlicher mittleren Alters; allen Männern aber war gemeinsam, daß sie blind waren. Unterschiedlicher waren die Frauen. Ein paar trugen eine in diese Umgebung gar nicht passende städtische Kleidung, andere waren vermutlich aus dem Dorf. In der zweiten Gruppe gab es nur eine Sehfähige, in der ersten aber etwa ein halbes Dutzend und außerdem eine Anzahl Mädchen, die zwar blind waren, aber nicht unbeholfen.

Auch Coker hatte die Anwesenden gemustert.

»Komischer Laden, das«, sagte er halblaut zu mir.

»Haben Sie Ihre Bekannte schon gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf, ich merkte an meiner Niedergeschlagenheit, wie sehr ich erwartet hatte, Josella hier zu finden.

»Merkwürdig«, fuhr Coker fort, »ich sehe praktisch keinen von denen, die ich damals eingefangen habe – das Mädel da unten ausgenommen.«

»Hat sie Sie erkannt?« fragte ich.

»Ich glaube, ja. Sie hat mir eine Art scheelen Blick zukommen lassen.«

Als das Austeilen und Servieren zu Ende war, bekamen auch wir unsere Teller und Plätze an der Tafel. Gegen die Qualität und die Zubereitung der Speisen ließ sich nichts einwenden, besonders wenn man eine Woche lang nur von kalten Konserven gelebt hatte. Nach dem Mahl wurde auf den Tisch geklopft.

Der Geistliche erhob sich; er wartete Ruhe ab, bevor er zu sprechen begann:

»Meine Freunde, wieder ist ein Tag zu Ende und es obliegt uns, Gott erneut für die große Gnade zu danken, mit der er uns inmitten eines solchen Unheils bewahrt hat. Bitten wir ihn alle, er möge denen gnädig sein, die noch verlassen im Dunkel umherirren, und ihre Schritte hierher lenken, damit wir ihnen bei-stehen können. Flehen wir zu ihm, daß wir die Prüfungen und Heimsuchungen, die uns noch bevorstehen, ertragen, damit wir zu seiner Zeit und mit seiner Hilfe unseren Beitrag zu leisten vermögen beim Aufbau einer besseren Welt.«