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Er senkte den Kopf.

»Allmächtiger, gnädiger Gott ...«

Nach dem ›Amen‹ wurde eine Hymne gesungen.

Hierauf stellten sich die Blinden in Gruppen zusammen, jeder in Tuchfühlung mit seinem Nachbar, und vier von den sehfähigen Mädchen führten sie hinaus.

Ich zündete eine Zigarette an. Coker nahm zerstreut eine von mir, ohne ein Wort zu sagen. Ein Mädchen kam zu uns herüber.

»Helfen Sie uns abräumen?« fragte sie. »Miß Durrant wird hoffentlich bald zurück sein.«

»Miß Durrant?« wiederholte ich.

»Sie befaßt sich mit dem Organisatorischen«, er-klärte das Mädchen. »Mit ihr können Sie alles vereinbaren.«

Es war eine Stunde später und beinahe dunkel, als wir hörten, daß Miß Durrant zurückgekehrt sei. Sie erwartete uns in einem kleinen, von zwei Kerzen spärlich erhellten Arbeitszimmer. Ich erkannte sie sogleich als die dunkle Dame mit den zusammengeknif-fenen Lippen, die in der Versammlung im Universitätsgebäude als Sprecherin der Opposition aufgetreten war. Im Augenblick konzentrierte sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf Coker. Ihre Miene war nicht freundlicher geworden.

»Ich höre«, sagte sie kalt, Coker ansehend, als sei er eine Art Schlamm, »ich höre, daß Sie es waren, der damals den Überfall organisiert hat?«

Coker bejahte und wartete.

»Dann möchte ich Ihnen gleich jetzt und ein für allemal sagen, daß wir in unserer Gemeinschaft für brutale Methoden nichts übrig haben und sie ablehnen.«

Coker lächelte etwas. Er antwortete in seiner besten Umgangssprache:

»Es kommt auf den Standpunkt an. Wer soll entscheiden, wer die Brutaleren waren? – die, die es für ihre Pflicht hielten, zu bleiben, oder die, die es für ih-re Pflicht ansahen, zu gehen?« Sie blickte ihn noch immer unverwandt scharf an. Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, doch war offensichtlich, daß sie ihr Urteil über Coker revidierte. Weder seine Antwort, noch die Art, wie er sie gab, hatten ihrer Erwartung entsprochen. Sie wandte sich nun von ihm ab und mir zu.

»Waren Sie auch mit dabei?« fragte sie.

Ich erklärte ihr die einigermaßen passive Rolle, die ich damals gespielt hatte, und stellte meine Gegenfrage:

»Was ist aus Michael Beadley, dem Obersten und ihrer Gruppe geworden?«

Sie fand keine gute Aufnahme.

»Sie sind weitergefahren«, sagte sie scharf. »Dies ist eine Gemeinschaft, die sich zu christlichen Grundsätzen bekennt, und an ihnen festhält. Für Leute von lockerer Moral ist hier kein Platz. Dekadenz, Sittenlosigkeit und Unglaube haben in der Vergangenheit die meisten Übel verschuldet. Wir Überlebende müssen dafür sorgen, daß sie in der neuen Gesellschaft keinen Keimboden finden. Wir brauchen hier weder Zyniker noch Überkluge, so brillant die Theorien auch sein mögen, mit denen sie ihre Sinnlichkeit und ihren Materialismus tarnen. Wir wollen eine christliche Gemeinschaft sein und bleiben.« Sie blickte mich herausfordernd an.

»Ihr habt euch also getrennt?« sagte ich. »Wohin sind die anderen?«

Unbewegt entgegnete sie:

»Sie sind weitergefahren, und wir sind hier geblieben. Darauf kommt es an. Solange sie uns hier ungestört lassen, mögen sie an ihrer Verdammnis arbeiten, wie sie wollen. Ich bin überzeugt, sie wird nicht ausbleiben, da sie sich über die Gebote Gottes und alle Sitte erhaben dünken.«

Nach dieser Erklärung kniff sie die Lippen zusammen, daß ich erkannte, jedes weitere Fragen sei müßig; sie wandte sich wieder Coker zu.

»Was können Sie?« fragte sie.

»Eine Reihe von Dingen«, antwortete er ruhig. »Ich will mich zuerst allgemein nützlich machen, bis ich sehe, wo man mich am dringendsten braucht.«

Das ging ihr zwar gegen den Strich, da sie sich offenbar Entscheidung und Leitung selbst vorbehalten hatte, aber sie gab nach.

»Gut. Sehen Sie sich um, und sprechen wir morgen weiter«, meinte sie.

Aber mit Coker wurde man nicht so leicht fertig. Er wollte genaue Angaben über die Größe des Gutes, die Zahl der anwesenden Personen, wieviel Blinde und wieviel Sehfähige, und anderes mehr, und erhielt sie.

Bevor wir gingen, stellte ich noch eine Frage. Nach Josella. Miß Durrant furchte die Stirne.

»Der Name kommt mir bekannt vor. Woher nur –? Oh, hat sie bei den letzten Wahlen für die konservative Liste kandidiert?«

»Ich glaube nicht. Sie – hm – sie hat einmal ein Buch veröffentlicht«, bekannte ich.

»Sie –«, begann sie. Dann sah ich die Erinnerung aufdämmern. »Oh, oh, das Buch –! Aber, aber, Mr. Masen, es läßt sich doch kaum annehmen, daß die Verfasserin Interesse haben kann für eine Gemeinschaft, wie wir sie hier aufbauen wollen.«

Draußen im Flur wandte sich Coker zu mir. Im Zwielicht konnte ich gerade noch sehen, wie er grinste.

»Etwas schwüles orthodoxes Klima in dieser Gegend«, bemerkte er, hörte aber zu grinsen auf, als er hinzufügte: »Komisches Frauenzimmer. Schwierig.

Stolz und Vorurteil. Sie braucht dringend Hilfe. Sie weiß es selbst, wird es aber unter keinen Umständen zugeben.«

Vor einer offenen Tür blieb er stehen. Die Dunkelheit erlaubte fast nicht mehr, etwas in dem Zimmer wahrzunehmen, doch wir hatten zuvor im Vorübergehen gesehen, daß es ein Schlafraum für Männer war.

»Ich möchte mit den Leuten da drinnen ein Wort reden. Auf später.«

Ich sah ihn in das Zimmer schlendern, dessen Bewohner er mit einem herzhaften »Hallo, Kollegen! Wie geht's?« begrüßte, und ging in den Speisesaal zurück.

Das einzige Licht, das dort vorhanden war, ver-breiteten drei Kerzen, die knapp nebeneinander auf einem Tisch standen. Dabei saß ein Mädchen über irgendeine Flickarbeit gebeugt.

»Hallo«, sagte sie. »Schauerlich, nicht? Wie haben Sie es in der alten Zeit nur fertiggebracht, nach Einbruch der Dunkelheit etwas zu tun?«

»Gar nicht so alt, die Zeit«, berichtigte ich. »Das hier ist nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft – vorausgesetzt, wir lernen das Kerzenmachen.«

»Sie haben recht.« Sie hob den Kopf und betrachtete mich.

»Sie sind heute aus London gekommen?«

Ich bejahte.

»Es ist nun schlimm dort?«

»Es ist aus«, erwiderte ich.

»Sie müssen dort gräßliche Dinge gesehen haben?« forschte sie.

»War nicht zu vermeiden«, sagte ich kurz. »Wie lange seid ihr hier?«

Sie gab mir ohne weitere Ermunterung ein allgemeines Bild der Ereignisse.

Cokers Überfall waren nur ein halbes Dutzend Sehfähige entkommen. Sie und Miß Durrant hatten zu den Übersehenen gehört. Am folgenden Tag hatte Miß Durrant, etwas unsicher, die Leitung übernommen. Sogleich wegzufahren, war schon deshalb unmöglich, weil nur einer der zurückgebliebenen einen Lkw zu chauffieren verstand. Während dieses Tages und zum Teil auch während des nächsten hatten sie in ihrer Gruppe fast die gleiche Funktion ausgeübt wie ich in der meinen draußen in Hampstead. Im Laufe des zweiten Tages aber kehrten Michael Beadley und zwei andere zurück, und in der Nacht waren noch einige eingetroffen. Am nächsten Mittag hatten sie Fahrer für ein Dutzend Wagen. Man hielt es für das klügste, sogleich aufzubrechen, ohne auf weitere Rückkehrer zu warten.

Tynsham Manor war nur aus dem Grund als vorläufiges Fahrziel gewählt worden, weil es der Oberst kannte und die Geschlossenheit des Besitzes zumindest einer der geforderten Bedingungen entsprach.

Es war eine zusammengewürfelte, uneinige Gruppe gewesen, wie ihre Führer wohl wußten. Am Tag nach ihrer Ankunft hatte eine Versammlung stattgefunden, kleiner als die in der Universität abgehaltene, aber sonst ähnlich. Michael und seine Anhänger hatten erklärt, sie seien nicht gesonnen, ihre Energie damit zu verschwenden, eine zankende, in Vorurteilen befangene Gruppe zu beschwichtigen. Die Lage sei zu ernst und die Zeit zu kostbar. Florence Durrant stimmte dem zu. Was geschehen war, sei Warnung genug. Wie man so verblendet, so undankbar für das Wunder seiner Rettung sein konnte, um auch nur einen Augenblick an den subversiven Theorien festzuhalten, die seit einem Jahrhundert den christlichen Glauben unterwühlten, übersteige ihre Fassungskraft.