»Hier greift die Führung ein. Sie plant, ohne davon zu reden. Sie veranlaßt die nötigen Änderungen als befristete Provisorien, die sich aber am Ende, wenn die Führung gut war, zu dem geplanten Ganzen zusammenfügen. Gegen jeden Plan lassen sich triftige Einwände erheben, doch die Not erzwingt Zugeständnisse.«
»Klingt hinterhältig. Ich bin für ein klares Ziel und einen geraden Weg.«
»Das behaupten viele, die lieber geködert, gelockt, oft sogar gestoßen werden wollen. Das befreit sie nämlich von der Verantwortung; kommt es zu einem Fehlschlag, sind immer andere schuld. Der gerade Weg entspricht einem mechanischen Denken, aber Menschen sind keine Maschinen. Sie haben ihre besondere Geisteshaltung, meist die bäuerliche, und fühlen sich in der gewohnten Furche am wohlsten.«
»Sie geben also Beadley wenig Erfolgsaussichten. Er ist doch ganz Plan.«
»Er wird Schwierigkeiten haben. Doch seine Leute haben gewählt. Die hier hat nur die Verneinung jedes Plans zusammengeführt«, erklärte ich. Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Das Mädel hatte in einem Punkt recht. Sie hätten es bei Beadley leichter. Ihr Verhalten gibt einen Begriff, was Sie von den andern zu erwarten haben, wenn Sie hier etwas auf Ihre Art versuchen. Sie können eine Schar Schafe nicht in einer schnurgeraden Linie zum Markt treiben, aber sie läßt sich auf andere Art hinbringen.«
Und wieder unterwegs
Der nächste Morgen war ohne festes Programm. Ich hielt Umschau, legte hier und dort mit Hand an und stellte eine Menge Fragen.
Ich hatte eine schlimme Nacht hinter mir. Als ich lag, war mir erst deutlich geworden, wie sehr ich damit gerechnet hatte, Josella in Tynsham zu finden. Die lange Fahrt hatte mich ermüdet, doch ich konnte nicht schlafen; verloren und ratlos starrte ich in die Finsternis. So zuversichtlich hatte ich gehofft, sie und Beadleys Gruppe hier zu treffen, daß es mir nicht eingefallen war, eine andere Möglichkeit zu erwägen. Nun regten sich Zweifel, ob ich sie überhaupt bei Beadley finden würde. Sie hatte ihr Revier in Westminster kurz vor meiner Ankunft verlassen und konnte die Hauptgruppe erst spät eingeholt haben. Das beste schien mir daher, mich nach all denen zu erkundigen, die in den letzten zwei Tagen durch Tynsham gekommen waren.
Daß sie diese Richtung eingeschlagen hatte, mußte ich annehmen. Es war mein einziger Anhaltspunkt.
Und damit mußte ich auch annehmen, daß sie zur Universität zurückgekehrt war und die Kreideanschrift gelesen hatte – aber hatte sie das getan? Oder hatte sie die Fäulnisstätte, die London geworden war, einfach auf dem schnellsten Weg verlassen? Auch das war möglich.
Am meisten hatte ich gegen den Gedanken anzukämpfen, daß auch sie von der rätselhaften Seuche ergriffen worden war, die zur Auflösung unserer Trupps geführt hatte. An diese Möglichkeit wollte ich nicht denken.
Die Klarheit der schlaflosen Stunden nach Mitternacht verhalf mir zu einer Entdeckung: ich erkannte, daß es mir weit weniger um Beadleys Gruppe als um Josella ging. Fand ich sie bei Beadley nicht ... nun, der nächste Schritt war ungewiß, Verzicht würde es jedenfalls nicht sein ...
Cokers Bett war schon leer, als ich erwachte, und ich beschloß, den Morgen vor allem zu Nachforschungen zu verwenden. Eine Schwierigkeit dabei war, daß es anscheinend niemandem eingefallen war, die Namen derer zu notieren, die Tynsham nicht nach ihrem Geschmack gefunden und es wieder verlassen hatten. Der Name Josellas war den meisten überhaupt unbekannt, einige wenige erinnerten sich seiner, aber mit Mißbilligung. Meine Beschreibung rief keine Gedächtnisbilder hervor, die einer genaueren Prüfung standhielten. Mit Sicherheit konnte ich nur feststellen, daß niemand in einem marineblauen Schianzug hier aufgetaucht war, aber es stand ja keineswegs fest, daß sie noch immer diese Kleidung trug.
Meine Nachforschungen hatten nur das Ergebnis, daß alle meiner vielen Fragen überdrüssig wurden und sich bei mir das Gefühl der Aussichtslosigkeit vertiefte. Es bestand die schwache Möglichkeit, daß eine junge Dame, die einen Tag vor unserer Ankunft eingetroffen und weitergefahren war, Josella gewesen sein konnte, aber es kam mir unwahrscheinlich vor, daß sie auf niemand einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben sollte – bei aller Voreingenommenheit ...
Coker sah ich erst beim Mittagessen wieder. Er hatte den Vormittag dazu verwendet, sich das ganze Anwesen gründlich anzusehen. Er hatte den Vieh-stand geprüft und die blinden Tiere gezählt. Die vorhandenen landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen besichtigt. Sich für die Versorgung mit Trinkwasser interessiert. Desgleichen für die Vorräte an Lebensmitteln und an Viehfutter. Auch dafür, wie viele Menschen schon vor der Katastrophe blind waren, und die anderen in Gruppen eingeteilt, die von Erfahreneren geschult werden sollten.
Er hatte die meisten Männer in Trübsinn versunken gefunden, verursacht durch eine gutgemeinte Vertröstung des Geistlichen, es werde für sie mancherlei nützliche Beschäftigung geben, wie Korbflechten und Weben, und er hatte sein möglichstes getan, sie durch erfreulichere Aussichten aufzuheitern. Und er war Miß Durrant begegnet. Er hatte ihr erklärt, die blinden Frauen müßten irgendwie zur Mitarbeit herangezogen werden und die sehenden entlasten, sonst würde das Ganze innerhalb von zehn Tagen zusammenbrechen, und wenn noch mehr Blinde kämen, würde sich der Betrieb überhaupt nicht mehr aufrechterhalten lassen. Er war im Begriff, weitere Vorschläge über die Anlage von Lebensmittelreserven und über die Mitarbeit der Blinden zu machen, als sie ihm ins Wort fiel. Sie blieb unbelehrbar und unzugänglich, obwohl er sehen konnte, daß sie besorgter war, als sie zugeben wollte, aber die Entschlossenheit, mit der sie sich von den anderen getrennt hatte, hielt sie auf dem eingeschlagenen Weg fest. Sie gab Coker zu verstehen, daß, nach dem, was sie gehört habe, seine Anwesenheit in Tynsham kaum wünschenswert erscheine.
»Herrschsucht, sonst nichts«, urteilte er. »Es geht ihr um die Führerrolle, und nicht nur um die idealen Grundsätze.«
»Da tun Sie ihr unrecht«, sagte ich. »Die idealen Grundsätze zwingen sie, die ganze Verantwortung und infolgedessen auch die Führung zu übernehmen.«
»Das kommt doch auf dasselbe heraus«, entgegnete er.
»Es klingt aber besser«, bemerkte ich.
Er überlegte.
»Wenn sie sich nicht bald zu einer gründlichen Organisation entschließt, entsteht hier ein heilloses Durcheinander. Haben Sie sich das Ganze angesehen?«
Ich schüttelte den Kopf und berichtete, wozu ich den Morgen verwendet hatte.
»Also ein Mißerfolg. Und was haben Sie nun vor?« fragte er.
»Ich fahre Michael Beadley und seinen Leuten nach«, erklärte ich.
»Und wenn sie auch dort nicht ist?«
»Bis jetzt hoffe ich, daß sie dort ist. Wo sollte sie sonst sein?«
Er setzte zu einer Antwort an, besann sich aber.
Dann meinte er:
»Schätze, das beste wird sein, wenn ich mitkomme. Willkommener als hier werde ich dort zwar auch nicht sein, aber damit kann ich mich abfinden. Ich habe zugeschaut, wie eine solche Gruppe zerfällt, und ich sehe schon jetzt, daß hier das gleiche passieren wird. Und es müßte nicht sein. Das Gut wäre lebensfähig, trotz der vielen Blinden. Es ist alles da, man brauchte nur zuzugreifen. Bloß die Organisation fehlt.«
»Und der gute Wille«, warf ich ein.
»Der auch«, stimmte er zu. »Ich glaube, die Leute hier haben noch immer nicht ganz begriffen, was geschehen ist. Sie halten es für etwas Vorübergehendes, darum wollen sie nicht richtig zupacken. Sie warten auf etwas.«
»Kein Wunder«, sagte ich. »Auch wir haben nicht gleich begriffen, und sie haben nicht gesehen, was wir gesehen haben. Und, ich weiß nicht, hier draußen sieht alles etwas anders aus, gemildert und weniger endgültig und unmittelbar.«
»Dann müssen sie sich aber bald richtig informieren, wenn sie durchkommen wollen«, sagte Coker mit einem Rundblick um den Saal. »Auf ein Wunder dürfen sie nicht hoffen.«