»Man muß ihnen Zeit lassen. Sie werden zur Einsicht kommen. Wie wir. Wozu die Eile? Zeit ist nicht mehr Geld.«
»Geld ist nicht mehr wichtig, Zeit schon. Man sollte an die Ernte denken, eine Mühle einrichten, Vorsorge treffen für die Stallfütterung im Winter.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Alles nicht so wichtig, Coker. In den Städten muß es noch gewaltige Mehlvorräte geben und, allem Anschein nach, sehr wenige Verbraucher. Wir können noch lange vom Kapital leben. Zuerst müssen die Blinden einmal arbeiten lernen, bevor sie wirklich eingesetzt werden können.«
»Trotzdem muß hier etwas geschehen, sonst brechen die Sehfähigen in absehbarer Zeit zusammen. Es brauchen nur zwei ausfallen und das Chaos ist da.«
Das konnte ich nicht bestreiten.
Am späten Nachmittag gelang es mir, Miß Durrant aufzufinden. Niemand schien etwas von Michael Beadley und seinen Leuten zu wissen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß er weggefahren war, ohne einen Fingerzeig für Nachzügler zu hinterlassen. Miß Durrant war nicht erfreut. Zuerst glaubte ich, sie würde jede Auskunft verweigern. Nicht nur deshalb, weil ich der anderen Gruppe den Vorzug gab. Unter den herrschenden Umständen stellte der Ausfall eines sehfähigen Mannes einen ernsten Verlust dar. Dennoch forderte sie mich nicht auf, zu bleiben; sie wollte keine Schwäche zeigen. Zuletzt sagte sie kurz:
»Sie wollten nach Dorset, irgendwohin in der Nähe von Beaminster. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Ich ging zurück und teilte es Coker mit. Er tat nochmals einen Rundblick. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Okay«, sagte er. »Dann wollen wir also morgen früh aus diesem Kaff abhauen.«
»Das heißt wie ein Mann gesprochen«, schloß ich.
Am nächsten Morgen hatten wir um neun Uhr schon an die zwölf Meilen hinter uns; wie zuvor fuhren wir in unseren Lkw. Wir hatten erwogen, ob wir nicht handlichere Fahrzeuge nehmen und die Lastautos in Tynsham lassen sollten, aber ich konnte mich nicht entschließen, das meine aufzugeben. Ich hatte es selbst beladen und wußte, was auf dem Wagen war. Abgesehen von dem Material zur Triffidbekämpfung, hatte ich mir auch sonst bei dieser letzten Fracht etwas mehr Freiheit genommen und eine Reihe von Dingen geladen, die außerhalb einer größeren Stadt schwer aufzutreiben waren, darunter eine kleine Lichtmaschine, einige Pumpen und mehrere Kisten mit guten Werk-zeugen. Dinge, die später gewiß leicht zu beschaffen waren, aber es kam ja nun zunächst eine Zeit, wo es nicht ratsam war, eine größere Stadt zu betreten. In Tynsham konnte man Nachschub aus Städten holen, die die Seuche bisher verschont hatte. Da spielten zwei Ladungen mehr oder weniger keine Rolle, und so fuhren wir fort, wie wir gekommen waren.
Das schöne Wetter hielt an. Auf höherem Terrain war die Luft noch immer rein und ohne Geruch.
Schlimm war es in den Dörfern. Selten sahen wir Leichen auf freiem Feld oder am Straßenrand; wie in London schien auch hier ein Instinkt die Leute in ein Versteck getrieben zu haben. Die Dorfgassen waren meist leer und die Felder ringsum so verlassen, als seien Menschen und Tiere durch Zauberei beseitigt worden. Bis wir nach Steeple Honey kamen.
Wir hatten, als wir einen Abhang hinunterfuhren, von der Landstraße aus eine Gesamtansicht des Dörfchens. Es begann jenseits einer steinernen Brükke, die einen schmalen, glitzernden Wasserlauf über-spannte. Ein stiller kleiner Ort, mit einem verschlafenen Kirchlein in der Mitte, am Rand von weißge-tünchten, Bauernhäusern gesäumt. Nichts schien je seinen Frieden gestört zu haben. Nun lag es leblos wie die anderen Dörfer, kein Rauch stieg zur Höhe empor. Doch als wir in halber Höhe des Abhangs waren, gewahrte ich etwas, das sich bewegte.
Links von uns stand jenseits der Brücke, etwas schräg zur Straße, ein einzelnes Haus mit einem Wirtsschild an einem Mauerhaken. Und von dem Fenster oberhalb dieses Schildes wurde etwas Weißes geschwenkt. Als wir näher kamen, erblickte ich auch den Mann, der, weit vorgebeugt, uns mit einem Handtuch heftig zuwinkte. Ich nahm an, daß er blind war, da er uns sonst auf der Straße aufgehalten hätte.
Nach seinen kräftigen Bewegungen schien er nicht krank zu sein.
Ich signalisierte zu Coker zurück und hielt an, als wir die Brücke passiert hatten. Der Mann am Fenster ließ das Handtuch fallen, schrie uns etwas zu, das bei dem Motorenlärm nicht zu verstehen war, und verschwand. Wir schalteten beide ab. Es entstand eine Stille, daß wir die Schritte des Mannes auf der Holztreppe innerhalb des Hauses hören konnten. Die Tür ging auf, und er trat, beide Arme vorgestreckt, heraus. Da peitschte etwas blitzschnell aus der Hecke zu seiner Linken und traf ihn. Mit einem schrillen Aufschrei brach er zusammen.
Ich griff nach meiner Schrotflinte und kletterte vom Fahrersitz. Nach einem vorsichtigen Rundgang gewahrte ich die im Schatten des Gesträuchs lauernde Triffid. Ich köpfte sie mit einem Schuß.
Auch Coker war ausgestiegen und trat neben mich.
Er schaute zuerst auf den Gestürzten und dann auf die gekappte Triffid. »Das war ja – verdammt, sie kann doch nicht auf ihn gewartet haben?« sagte er.
»Muß bloßer Zufall gewesen sein ... Sie, konnte nicht wissen, daß er gerade bei dieser Tür herauskommen würde ... So was gibt's doch nicht!«
»Nicht? Jedenfalls ein merkwürdiger Zufall«, stellte ich fest. Coker warf mir einen unruhigen Blick zu.
»Verdammt merkwürdig. Sie glauben doch nicht im Ernst ...?«
»Es ist wie eine Verschwörung«, sagte ich. »Niemand will etwas, das mit Triffids zusammenhängt, glauben. Vielleicht lauern hier noch mehr.«
Wir suchten die nähere Umgebung sorgfältig ab, fanden aber nichts.
»Ich könnte einen Schluck vertragen«, meinte Coker.
Ohne die Staubschicht auf dem Schanktisch hätte die Gaststube ganz normal ausgesehen. Wir schenkten uns jeder einen Whisky ein. Coker kippte den seinen auf einen Zug. Er sah mich sorgenvoll an.
»Das hat mir nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Bill, Sie müssen ja Bescheid wissen über die verfluchten Biester. Die kann doch wirklich nur zufällig dort gestanden sein? Ist ja nicht anders möglich, nicht?«
»Ich denke –«, begann ich. Dann stockte ich und horchte auf ein abgehacktes Trommeln draußen. Ich trat ans Fenster, öffnete es und feuerte einen zweiten Schuß auf die gestutzte Triffid ab; diesmal auf den Oberteil des Strunkes. Das Trommeln verstummte.
»Die Schwierigkeit bei den Triffids«, sagte ich, als wir die Gläser nochmals vollschenkten, »liegt vor allem in dem, was wir über sie nicht wissen.« Und ich teilte ihm einige von Walters Theorien mit. Er starrte mich an.
»Sie wollen also im Ernst behaupten, daß die Dinger tatsächlich reden, wenn sie dieses Rattern hören lassen?«
»Ich behaupte gar nichts«, erwiderte ich. »Ich halte es für eine Art Signal; so weit will ich gehen. Aber Walter – und niemand kannte sie besser als er – war überzeugt, daß es sich um ein richtiges Sprechen handelt.«
Ich ließ die leeren Patronenhülsen auswerfen und lud von neuem.
»Und er erwähnte ihre Überlegenheit über Blinde?«
»Es ist Jahre her«, gab ich ihm zu bedenken.
»Bleibt dennoch ein merkwürdiges Zusammentreffen.«
»Voreilig, wie immer«, meinte ich. »Fast jedes Ereignis läßt sich als merkwürdiges Zusammentreffen deuten, wenn man es so deuten will.«
Wir tranken aus und wandten uns zum Gehen, als Coker, nach einem Blick durchs Fenster, mich beim Arm packte und hinauszeigte. Zwei Triffids kamen eben um die Ecke und strebten der Hecke zu, wo die erste gelauert hatte. Ich wartete, bis sie anhielten, und köpfte beide. Dann kletterten wir durch ein Fenster, das außerhalb des Gefahrenbereichs war, und näherten uns vorsichtig den Lastwagen.