An diesem Morgen schlug das Wetter um, und als ich in meinen alten Lkw kletterte, regnete es in Strömen. Dennoch war ich froh und voll Hoffnung; auch wenn es noch zehnmal stärker gegossen hätte, wäre das ohne Einfluß auf meine Stimmung und meinen Plan geblieben. Coker kam heraus, um sich zu verab-schieden. Ich wußte, warum er darauf Wert legte; obwohl er es nie erwähnt hatte, spürte ich, daß ihn die Erinnerung an seinen ersten unbesonnenen Plan und dessen Folgen beunruhigte. Nun stand er mit nassen Haarsträhnen neben dem Wagenschlag, das Wasser lief ihm am Hals herunter, und hob die Hand.
»Immer mit der Ruhe, Bill. Bedenken Sie, daß es heutzutage keine Krankenwagen gibt und daß es ihr lieber sein wird, wenn Sie heil und ganz ankommen.
Viel Glück – und entschuldigen Sie mich bei der Da-me, wenn Sie sie treffen.«
Der Ton war weniger zuversichtlich als die Worte.
Ich wünschte ihnen in Tynsham Glück. Dann schaltete ich den; Motor ein und fuhr durch den aufspritzenden Kot den Fahrweg hinunter.
Neue Hoffnung
Die Fahrt begann mit einigen kleineren Mißhelligkeiten. Zuerst hatte ich Wasser im Vergaser. Dann verfuhr ich mich ein Dutzend Meilen, und ehe das vollkommen bereinigt war, hatte ich auf einer einsamen kahlen Hochstraße einen Defekt in der Zündung. Diese Widerwärtigkeiten und vielleicht auch eine natürliche seelische Reaktion trugen viel dazu bei, die hoffnungsvolle Stimmung, in der ich ausgefahren war, zu verdüstern. Als ich den Defekt behoben hatte, war es ein Uhr, und der Tag hatte sich aufgehellt.
Die Sonne kam heraus. Obwohl alles nun vor Frische funkelte und die nächsten zwanzig Meilen reibungslos verliefen, vermochte ich einer wachsenden Niedergeschlagenheit nicht Herr zu werden. Ich konnte mich jetzt, wo ich ganz auf mich allein gestellt war, des Gefühls der Verlassenheit nicht erwehren. Es überfiel mich wie an dem Tag, als wir uns verteilt hatten, um Michael Beadley zu suchen – nur diesmal mit doppelter Gewalt ... Bis dahin war Einsamkeit etwas Negatives für mich gewesen – zeitweise Abwesenheit menschlicher Gesellschaft, nicht mehr. An diesem Tag hatte ich erfahren, daß sie weit mehr war.
Daß sie lasten und bedrücken konnte, Zerrbilder schaffen und die Erkenntnisfähigkeit des Geistes verringern. Daß sie etwas Feindliches war, das ringsum lauerte, die Nerven in schreckhafter Spannung hielt und einen nie vergessen ließ, daß niemand da war, der raten und helfen konnte. Sie machte einem klar, daß man nichts weiter war als ein Pünktchen im Ungeheuren, und sie wartete die ganze Zeit auf die Gelegenheit, ihre Schrecken loszulassen – und das mußte man verhindern ...
Mehr als zuvor mußte ich meine ganze Widerstandskraft aufbieten, um nicht umzukehren. Hätte mich nicht die Hoffnung aufrechtgehalten, am Ziel meiner Fahrt Menschen zu finden, ich wäre zu Coker und den anderen zurückgefahren.
Die Bilder, die ich unterwegs sah, hatten damit wenig oder nichts zu tun. So gräßlich einige davon waren, ich war nun abgehärtet. Der Schrecken hatte sich daraus verflüchtigt, so wie das Grauen, das große Schlachtfelder umwittert, zur Geschichte verblaßt.
Auch waren diese Dinge für mich nicht mehr Teil einer gewaltigen und erschütternden Tragödie. Mein Kampf war ein rein persönlicher gegen die Instinkte meiner Gattung. Es war ein unausgesetzter Verteidi-gungskampf ohne Aussicht auf einen endgültigen Sieg. Ich wußte im Grund meines Herzens, daß ich allein nicht lange standhalten konnte.
Um mich abzulenken, fuhr ich schneller als gut war. In einem vergessenen Städtchen rammte ich, als ich um eine Ecke bog, einen Lastwagen, der die ganze Straße blockierte. Zum Glück bekam mein eigener widerstandsfähiger Wagen nur ein paar Kratzer ab, doch die beiden Fahrzeuge hatten sich auf eine so unwahrscheinlich teuflische Art ineinander verkeilt, daß es für mich allein und auf dem beschränkten Raum ein ungemein mühevolles Geschäft war, sie wieder auseinanderzubringen. Es nahm eine volle Stunde in Anspruch, hatte aber das Gute, daß ich meine Aufmerksamkeit praktischen Dingen zuwenden mußte.
Danach verlangsamte ich das Tempo, ausgenommen ein paar Minuten nach meiner Einfahrt in den New Forest. Ich erspähte nämlich über den Baumwipfeln einen Hubschrauber in geringer Höhe. Ein Stück voraus mußte er meine Route kreuzen. Leider standen hier die Bäume an beiden Seiten der Straße besonders dicht, so daß diese von oben wohl kaum zu sehen war. Ich legte los, aber als ich offenes Gelände erreichte, war die Maschine nur mehr ein Punkt, der sich nach Norden entfernte. Dennoch wirkte selbst diese Begegnung tröstlich auf mich.
Etwas später kam ich durch ein malerisch im Grün liegendes Dörfchen, das mit seinen Stroh- und Ziegeldächern und seinen blühenden Gärten wie aus einem Bilderbuch genommen aussah. Ich hütete mich allerdings, zu nahe an den Gärten vorüberzufahren; denn allzu oft sah ich aus den Blumen die fremdartige Gestalt einer Triffid emporragen. Ich war fast schon am Ortsende, als aus einer der letzten Gartentüren ein Kind auf die Straße sprang und, mit beiden Händen winkend, mir entgegenlief. Ich hielt an, spähte, nun beinahe schon instinktiv, nach Triffids aus, ergriff meine Flinte und stieg aus.
Das Kind hatte ein Kleid aus blauem Baumwoll-zeug an, weiße Socken und Sandalen und war etwa neun oder zehn Jahre alt. Ein hübsches kleines Mädchen – das konnte ich sehen, obwohl das dunkelbraune lockige Haar wirr und ungepflegt um das tränenverschmierte Gesichtchen hing. Sie zog mich am Ärmel.
»Bitte, bitte«, sagte sie aufgeregt, »bitte, kommen Sie und schauen Sie, was mit Tommy geschehen ist.«
Ich starrte auf sie hinunter. Die furchtbare Einsamkeit dieses Tages löste sich, sie zerbrach wie ein Ge-häuse, in das ich mich eingeschlossen hatte. Am liebsten hätte ich die Kleine aufgehoben und an meine Brust gedrückt. Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Sie faßte die Hand, die ich ihr hinhielt.
So gingen wir zur Gartentür zurück, durch die sie gekommen war.
»Dort ist Tommy«, sagte sie und deutete auf eine Stelle.
Zwischen den Blumenbeeten lag auf einem schmalen Rasenstück ein kleiner, etwa vierjähriger Knabe. Auf den ersten Blick war klar, warum er dort lag.
»Das Ding dort hat ihn geschlagen«, erzählte das Mädchen. »Es hat auf ihn losgeschlagen, und er ist hingefallen. Und auf mich hat es auch schlagen wollen, wie ich Tommy zu Hilfe kommen wollte. Das garstige Ding!«
Ich blickte auf und gewahrte jenseits des Garten-zauns eine Triffid.
»Halte dir die Ohren zu. Es wird knallen«, sagte ich.
Die Kleine gehorchte, und ich köpfte die Triffid mit einem Schuß.
»Das Ding dort hat ihn geschlagen«, wiederholte das Mädchen. Ich war im Begriff, das zu bejahen, als die verstümmelte Pflanze zu trommeln begann wie die, der ich in Steeple Honey den Garaus gemacht hatte. Und wie damals brachte ich sie mit einem zweiten Schuß zum Schweigen.
»Ja«, sagte ich. »Jetzt ist sie tot.«
Wir traten zu dem Knaben. Die scharlachrote Strieme war auf dem blassen Gesicht deutlich sichtbar. Er mußte den Stich vor ein paar Stunden erhalten haben. Das Mädchen kniete an seiner Seite nieder.
»Da ist nichts mehr zu tun«, sagte ich leise.
Sie blickte auf, die Augen aufs neue voller Tränen.
»Ist Tommy auch tot?«
Ich hockte neben ihr nieder und schüttelte den Kopf.
»Ja, leider.«
Nach einer Weile sagte sie:
»Armer Tommy! Wollen wir ihn begraben – wie die kleinen Hündchen?«
»Ja, das wollen wir«, antwortete ich.
In dieser ganzen unfaßbaren Katastrophe war es das einzige Grab, das ich schaufelte – und es war ein sehr kleines. Das Mädchen sammelte Blumen zu einem Strauß, den sie auf den Hügel legte. Dann fuhren wir fort.
Sie hieß Susan. Vor langer Zeit, so schien ihr, war mit Vater und Mutter etwas geschehen, so daß sie nicht sehen konnten. Der Vater war ausgegangen, um Hilfe zu holen, und nicht zurückgekommen. Später ging die Mutter aus, nachdem sie den Kindern eingeschärft hatte, das Haus nicht zu verlassen. Sie war weinend zurückgekommen. Am nächsten Tag ging sie wieder aus: diesmal kam sie nicht zurück. Die Kinder hatten gegessen, was sie finden konnten, dann wurden sie hungrig. Der Hunger wurde zuletzt so groß, daß Susan ungehorsam wurde und bei Mrs. Walton im Laden Hilfe suchte. Der Laden war offen, aber Mrs. Walton war nicht da. Da auf Susans Rufen niemand kam, hatte sie beschlossen, ein paar Kuchen und Süßigkeiten und etwas Backwerk zu nehmen und es Mrs. Walton später zu sagen.