Dennis hatte sich über die Zeit orientiert, indem er die Uhrzeiger abtastete. Gegen Abend war das untätige Umhersitzen unerträglich geworden. Er wollte versuchen, hinunter ins Dorf zu gelangen. Dem hatten sich beide Frauen widersetzt. Aus Rücksicht auf Marys Zustand hatte er nachgegeben, und Joyce war gegangen. Sie trat zur Tür, mit einem Stock vor sich her tastend. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als etwas wie glühender Draht über ihre linke Hand peitschte. Mit einem Aufschrei sprang sie zurück und brach im Vorzimmer zusammen, wo Dennis sie dann auffand. Zum Glück war sie bei Bewußtsein und klagte über die schmerzende Hand. Dennis, die wulstige Strieme befühlend, hatte erraten, was es war. Irgendwie war es ihm und Mary trotz ihrer Blindheit gelungen, warme Umschläge zu bereiten; sie hatte Wasser heiß gemacht, während er eine Aderpresse anlegte und sein Bestes tat, das Gift abzu-saugen. Danach hatten sie die Kranke hinauf ins Bett gebracht, wo sie einige Tage blieb. Unterdessen hatte Dennis Versuche angestellt, zuerst an der Vorderfront und dann an der Hinterfront des Hauses. Durch die nur spaltbreit geöffnete Tür schob er vorsichtig in Kopfhöhe einen Besen. Jedesmal schwirrte draußen ein Stachel, und er fühlte den Stiel in seiner Hand unter einem leichten Schlag erzittern. An einem der Gartenfenster ereignete sich das gleiche: die anderen schienen frei. Er hätte versucht, durch eins hinauszu-gelangen, unterließ es aber auf Marys verzweifeltes Bitten. Sie war überzeugt, daß Triffids nicht nur beim Haus lauerten.
Zum Glück reichten die vorhandenen Lebensmittel für einige Zeit, wenngleich die Zubereitung schwierig war. Joyce hatte zwar hohes Fieber, schien jedoch des Triffidgiftes Herr zu werden, so daß die Lage nicht ganz unhaltbar war. Den größten Teil des nächsten Tages verbrachte Dennis mit der Anfertigung einer Art Schutzhelm für sich. Er verfügte nur über weitmaschiges Drahtnetz, das er in mehreren Lagen kreuz und quer übereinanderschichten und verknüpfen mußte, was einige Zeit in Anspruch nahm. Mit diesem Kopfschutz und dicken Stulphandschuhen ausgerüstet, war er am späten Nachmittag aufgebrochen.
Er war noch keine drei Schritt weit vom Haus, als eine Triffid nach ihm schlug. Er tappte nach ihr, bekam sie zu fassen und zerquetschte ihren Stengel. Nach ein, zwei Minuten klatschte wieder ein Schlag auf seinen Schutzhelm. Diesmal gelang es ihm nicht, die Triffid zu packen, obwohl sie noch ein halbes Dutzend Schläge tat, ehe sie aufgab. Er fand den Weg zum Geräteschuppen und von da auf die Straße; er hatte nun drei große Garnrollen, die er unterwegs ab-spulte, um den Rückweg zu finden.
Mehrmals peitschten auf der Straße Stacheln auf ihn los. Und er brauchte enorm lang, um die Meile hinab ins Dorf zu wandern, und ehe er es erreichte, war sein Garnvorrat zu Ende. Und all die Zeit war er durch eine lautlose Stille geschlurft und gestolpert, die ihn erschreckte. Hie und da war er stehengeblieben, um zu rufen: niemand antwortete. Mehr als einmal fürchtete er, er sei vom Weg abgeirrt, aber als er festeren Straßenbelag unter den Füßen spürte und außerdem einen Wegweiser entdeckte, wußte er, wo er war. Er schlurfte weiter. Nach einer, wie ihm vorkam, ungeheuren Wegstrecke bemerkte er, daß seine Schritte einen anderen Klang hatten; sie weckten ein schwaches Echo. Er tappte seitwärts und fand einen Fußpfad und dann eine Mauer. Ein Stück weiter entdeckte er einen Postkasten in der Ziegelwand und wußte, daß er nun endlich im Dorf war. Er rief wieder. Eine Stimme, die einer Frau, rief zurück, aber die Entfernung war zu groß, er konnte die Worte nicht verstehen. Er rief nochmals und begann, sich ihr zu nähern. Da unterbrach ein Aufschrei plötzlich die Antwort. Dann trat wieder Stille ein. Jetzt erst und noch halb ungläubig hatte er erkannt, daß das Dorf ebenso heimgesucht war wie sein Haus. Er setzte sich am Straßenrand ins Gras und überlegte, was er tun sollte.
An der kühleren Luft merkte er, daß es Nacht geworden sein mußte. Er mußte volle vier Stunden gegangen sein – und konnte nichts anderes tun, als wieder zurückwandern. Aber dann wenigstens nicht mit leeren Händen ... Er pochte mit seinem Stock die Mauern entlang, bis er auf eins der Blechschilder auftraf, mit denen der Dorfkaufladen verziert war.
Während der letzten fünfzig, sechzig Meter hatten dreimal Stacheln über seinen Helm gepeitscht. Noch einer traf ihn, als er die Vorgartentür öffnete, dann stolperte er über einen Körper, der auf dem Fußpfad lag. Es war der eines Mannes und war ganz kalt.
Er hatte den Eindruck, daß andere schon vor ihm in dem Laden gewesen waren. Dennoch stöberte er ein ansehnliches Stück Speck auf. Er tat es nebst einigen Paketen Butter oder Margarine, Zwieback und Zucker in einen Sack und fügte noch ein paar Dosen hinzu, die er von einem Regal nahm, das, wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, Lebensmittel enthielt – die Sardinendosen jedenfalls waren unverkennbar.
Dann suchte und fand er ein gutes Dutzend Knäuel Bindfaden, schulterte den Sack und machte sich auf den Heimweg. Einmal war er von seinem Weg abgeirrt und hatte einen Panikausbruch niederkämpfen müssen, während er das durchschrittene Wegstück zurückging und sich neu orientierte. Endlich merkte er, daß er wieder auf der alten Straße war, ertastete das ausgelegte Garn und verknüpfte es mit dem Bindfaden. Der Rückweg war dann verhältnismäßig einfach gewesen.
Zweimal noch hatte er in der folgenden Woche den Kaufladen aufgesucht, und jedesmal war ihm vorgekommen, als seien die Triffids um das Haus und an der Straße zahlreicher geworden. Das verlassene Trio hatte nichts anderes tun können, als warten und hoffen. Und dann, wie ein Wunder, war Josella gekommen.
Es war von Anfang an klar, daß im Augenblick ein Umzug nach Tynsham nicht in Frage kam. Joyce Taylor war noch immer sehr schwach – wenn ich sie ansah, erschien es mir wie ein Wunder, daß sie überhaupt mit dem Leben davongekommen war. Nur Dennis' raschem Eingreifen verdankte sie ihre Rettung, aber da sie nachher nicht die richtigen Arzneien, ja nicht einmal die geeignete Nahrung erhalten hatte, war die Genesung verzögert worden. An einen Transport über eine längere Strecke war bei ihr nicht zu denken. Und dann stand auch Marys Niederkunft unmittelbar bevor, so daß eine Reise für sie ebenfalls nicht ratsam war. Das beste für uns alle schien daher, zunächst zu bleiben, wo wir waren und den Verlauf dieser Krisen abzuwarten.
Wiederum fiel mir die Aufgabe zu, Vorräte zu sammeln und heranzuschaffen. Diesmal auf breiterer Grundlage. Das Programm umfaßte nicht nur Lebensmittel, sondern auch Treibstoff für die Lichtanlage, ferner Legehennen, zwei Kühe, die vor kurzem gekalbt hatten (und trotz ihrer erschreckenden Magerkeit noch lebten), Dinge, die Mary brauchte, und allerlei Kleinigkeiten außerdem.
Die Gegend war von Triffids geradezu verseucht; nirgends hatte ich so viele gesehen. Fast jeden Morgen lauerten ein, zwei neue um das Haus, und es war unsere erste tägliche Aufgabe, sie abzuschießen, bis ich den Garten mit einem Drahtgitter abschirmte.
Selbst dann kamen sie herbei und warteten, bis etwas gegen sie unternommen wurde.
Ich öffnete ein paar Kisten, in denen sich Abwehrmaterial befand, und unterrichtete die kleine Susan in der Handhabung der Triffidflinten. Sie lernte schnell und wurde bald eine Meisterin im Abschießen der ›Dinger‹, wie sie sie noch immer nannte. Dieses tägliche Rachewerk wurde ihr Ressort. Und dann erfuhr ich von Josella, was sie nach dem Feueralarm im Universitätsgebäude erlebt hatte.
Auch sie war mit einem Trupp verladen worden, hatte aber ihren beiden Wächterinnen gegenüber ein summarisches Verfahren angewendet und ihnen ein glattes Ultimatum gestellt: Entweder, sie erhielt volle Freiheit, dann war sie bereit, zu helfen, soviel sie konnte; oder sie blieb eine Gefangene, dann müßten sie gefaßt sein, eines Tages auf ihre Empfehlung Blausäure zu trinken und Zyankali zu essen. Sie konnten wählen. Die Blinden hatten vernünftig gewählt.