An einem der tieferen Südhänge machten wir halt und blieben eine Weile sitzen.
Es war ein herrlicher Junitag, der Himmel von reinstem Blau mit ein paar leichten Wölkchen. Die Sonne strahlte herab auf den Strand und auf die See dahinter so hell wie in den Tagen, da dieser selbe Strand von Badenden gewimmelt hatte und die See gesprenkelt war von kleinen Booten. Minutenlang blickten wir schweigend hinunter. Josella sagte: »Geht es dir nicht manchmal noch immer so, Bill, wenn du die Augen zumachst und nach einer Weile wieder öffnest, daß dann alles sein müßte, wie es war? Mir geht es so.«
»Jetzt nicht oft«, gestand ich. »Aber ich habe auch viel mehr gesehen als du. Immerhin manchmal ...«
»Und schau, die Möwen – genau wie sie immer waren.«
»Es sind viel mehr Vögel da dieses Jahr«, stimmte ich zu.
»Ich bin froh darüber.«
Impressionistisch aus der Ferne gesehen, bot die kleine Stadt noch das alte Bild: Häuschen mit roten Dächern, Sommervillen, hauptsächlich von zurückgezogenem Mittelstand bewohnt – aber dieser Eindruck dauerte nur wenige Minuten. Die Dächer waren noch zu sehen, die Mauern kaum mehr. Die gepflegten Gärten waren unter ungehemmt wucherndem Grün verschwunden, nur hier und dort erinnerte ein Farbfleck an die sorgsam kultivierten Blumen von einst. Aus dieser Entfernung sahen sogar die Straßen wie grüne Teppichstreifen aus. Aber dieses sanfte Grün war Täuschung, in der Nähe würde es sich als verfilztes, grobblättriges Unkraut erweisen.
»Es ist nur einige Jahre her«, sagte Josella nachdenklich, »da jammerten die Leute, daß diese Wo-chenendhäuschen die Landschaft verunstalteten. Und wie sehen die jetzt aus!«
»Es erschreckt mich. Es ist, als ob alles losbreche.
Als ob alles sich freut, daß es aus ist mit uns und jedes seine Freiheit hat. Ich frage mich: Haben wir uns seither nicht doch nur etwas vorgemacht? Glaubst du, daß es wirklich aus ist mit uns, Bill?«
»Ich gebe dir die ehrliche Antwort: nicht ganz aus.
Und wer lebt, hofft.«
Wir schauten einige Augenblicke schweigend auf das Bild vor uns.
»Ich glaube«, ergänzte ich, »wohlverstanden, es ist nur ein Glaube, daß wir eine schmale Chance haben – eine so schmale, daß es lange dauern wird, bis wir festen Fuß fassen können.
Wären die Triffids nicht, hätten wir sogar, meiner Meinung nach, eine sehr gute Chance – freilich, eine gute Weile würde es auch dann dauern. Aber die Triffids sind ein entscheidender Faktor. Sie sind etwas, mit dem noch keine aufsteigende Zivilisation zu kämpfen hatte. Werden sie uns von der Herrschaft verdrängen, oder sind wir imstande, sie aufzuhalten?
Es müßte sich ein einfacher Weg finden lassen, mit ihnen aufzuräumen. Wir sind noch nicht so übel dran – wir können sie in Schach halten. Aber unsere Enkel – was werden die gegen sie unternehmen? Werden sie ihr ganzes Leben in kleinen Schutzgebieten zubringen müssen, die sie mühsam und in steter Abwehr-bereitschaft gegen die Triffids zu verteidigen haben?
Ich bin überzeugt, daß es einen einfachen Weg gibt.
Nur setzt das Auffinden eines solchen Weges so viel komplizierte Forschung voraus. Und nun fehlen die nötigen Hilfsquellen.«
»Wir verfügen doch über alle Hilfsquellen, die es je gegeben hat, wir brauchen nur zu nehmen«, warf Josella ein.
»Die materiellen, ja. Die geistigen, nein. Was wir brauchen, ist ein Team, eine Arbeitsgemeinschaft von Fachleuten, die sich das Ziel setzt, den Triffids den Garaus zu machen. Es gibt Mittel, davon bin ich überzeugt. Hormone etwa, die nur bei Triffids Schädigungen hervorrufen ... Es muß möglich sein – nur müßte man das nötige geistige Potential für diese Aufgabe einsetzen ...«
»Wenn du davon überzeugt bist, warum versuchst du es nicht?« fragte sie.
»Aus mehr als einem Grund. Erstens fehlen mir die Fähigkeiten – ich bin nur ein mittelmäßiger Biochemiker, und ich bin allein. Es gehört auch ein Labor dazu und Ausrüstung. Außerdem vor allem Zeit, und ich habe schon so genug zu tun. Dann müßte man synthetische Hormone in genügender Menge, also fabrikmäßig, herstellen. Aber zuerst muß die Forschungsgemeinschaft da sein.«
»Man könnte ja Leute schulen.«
»Sicher – wenn man sie bei anderen notwendigen Arbeiten entbehren kann. Ich habe eine Masse bio-chemischer Literatur gesammelt, in der Hoffnung, daß sich einmal Leute finden, die sie benützen – ich werde David in allem unterrichten, was ich weiß, und er muß es weitergeben. Aber falls Freizeit und Muße fehlen, sehe ich keine andere Möglichkeit vor uns als die Schutzgebiete.«
Josella blickte mit gefurchter Stirn auf eine Gruppe von vier Triffids, die unter uns querfeldein zog.
»Früher hat man immer behauptet, die schärfste Konkurrenz des Menschen seien die Insekten. Mir kommt vor, die Triffids haben etwas mit gewissen Insektenarten gemeinsam. Oh, ich weiß, biologisch gehören sie zu den Pflanzen. Ich meine es in dem Sinn, daß sie sich nicht um das Einzelwesen kümmern und das Einzelwesen sich nicht um sich selber kümmert.
Einzeln haben sie etwas, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Intelligenz hat; beim Kollektiv ist die Ähnlichkeit weit größer. Wie die Bienen und Ameisen arbeiten sie unbewußt für ein gemeinsames Ziel und werden sozusagen von einem Kollektivbewußtsein gesteuert. Es ist alles sehr eigenartig – für uns wahrscheinlich im Grunde unverständlich. Sie sind so ganz anders. Scheinen alle unsere Begriffe von Erbmerkmalen über den Haufen zu werfen. Gibt es in einer Biene oder in einer Triffid so etwas wie ein Gen für Kollektivaufgaben, oder hat eine Ameise ein Gen für Architektur? Und wenn das der Fall ist, warum haben wir nicht ein Gen für Sprache oder fürs Kochen entwickelt? Was immer es sein mag, die Triffids scheinen tatsächlich so etwas zu haben. Wahrscheinlich weiß keine einzelne Triffid, warum sie vor unserem Zaun wartet, aber der ganze Haufen weiß, daß er uns kriegen will – und früher oder später auch kriegen wird.«
»Da kann immer noch manches geschehen, das zu verhindern«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht verzagt machen.«
»Bin ich auch nicht – nur manchmal, wenn ich müde bin. Gewöhnlich habe ich ja keine Zeit, mir über die Zukunft viel Gedanken zu machen. Nein, in der Regel geht es bei mir über ein bißchen Traurigsein nicht hinaus. Ich werde sentimental, wenn du Platten spielst – für mich hat es etwas Erschreckendes, ein großes Orchester zu hören, das nicht mehr da ist und doch weiterspielt für eine winzige Gruppe, die einge-kesselt ist und immer primitiver wird. Es erinnert mich an das, was war, und ich werde traurig, wenn ich an all das denke, das für immer dahin ist – gleichviel, was kommen wird. Geht es dir manchmal nicht auch so?«
»Mhm«, gab ich zu. »Aber mit der Zeit finde ich auch die Gegenwart annehmbarer. Würden einem Wünsche erfüllt, würde ich mir die alte Welt zurück-wünschen – unter einer Bedingung allerdings. Denn ich bin trotz allem innerlich glücklicher als je zuvor.
Das weißt du doch auch, Josie?«
Sie legte ihre Hand auf die meine.
»Ich fühle das auch. Nein, was mich traurig macht, ist weniger das, was wir verloren haben, als das, was die Kinder nie kennenlernen werden.«
»Ihnen Hoffnungen und Impulse zu geben, wird ein Problem sein«, stimmte ich zu. »Wir können von der Vergangenheit nicht los. Sie aber dürfen nicht fortwährend zurückblicken. Ein verschwundenes, goldenes Zeitalter und Vorfahren, die Zauberer waren, wären für sie eine verhängnisvolle Tradition.
Ganze Völker hat diese Art Minderwertigkeitskomplex über der Tradition einer glorreichen Vergangenheit träge werden lassen. Aber wie können wir das verhindern?«
»Wenn ich jetzt ein Kind wäre«, sagte sie nachsin-nend, »dann, kommt mir vor, würde ich eine Art Er-klärung haben wollen. Würde mir die nicht gegeben – das heißt, ließe man mich glauben, ich sei in eine ganz sinnlos zerstörte Welt gekommen, erschiene mir auch mein Leben ganz sinnlos. Das macht es ja so schwierig, denn das ist es ja gerade, was passiert ist ...«